Ist Günter Wallraff ein Jobkiller?

Auf den ersten Blick sieht das nach dem GAU der investigativen Recherche aus: Vor gut zwei Jahren malochte Undercover-Journalist Günter Wallraff in einer Industriebäckerei im 3.200-Einwohner-Städtchen Stromberg im Hunsrück. Unter dem Titel „Unser täglich Brötchen“, erschienen im „Zeit Magazin“ 19/2008, berichtete er von einem „ständigen Kampf gegen den Schimmel“ und einem Chef, der seine Arbeiter „wie Sklaven“ behandele. Ende September 2010 meldet schließlich der SWR: Die Bäckerei habe dichtgemacht.

Insgesamt 23 Arbeiter haben ihren Job verloren, weil „die Angelegenheit Wallraff den Inhaber und seine Familie belastet“, wie es offiziell hieß. Diese Botschaft könnte klarer nicht sein: Kommt Günter Wallraff, gehen die Jobs drauf. Gehen seine Undercover-Recherchen also zulasten seiner ehemaligen „Kollegen“? So scheint es zumindest, titelte doch auch die dpa: „Bäckerei schließt nach Wallraff-Bericht“. Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt, dass der Fall völlig anders gelagert ist.

„Das ist eine Legende“

Zu der kolportierten Theorie, der Inhaber der Bäckerei habe seinen Laden geschlossen, weil er nach den Enthüllungen zu große Bauchschmerzen gehabt habe, sagt der Journalist: „Das ist eine Legende!“ Das alles sei gekommen, weil Lidl als zuletzt einziger Kunde des Betriebs „sein Image verbessern musste“ und die Bäckerei nicht mehr ins Bild passte. „Ich glaube, Lidl und der Inhaber der Bäckerei wollten sich dem nahenden Prozess wie auch weiteren öffentlichen Debatten entziehen“, so Wallraff. Gut möglich, dass er bald auf den Besitzer der Bäckerei treffen wird: Der muss sich dort voraussichtlich im November verantworten.

„Die beste Entscheidung“

Zwischenzeitlich hätten sich die Bedingungen in der Industriebäckerei sogar deutlich verbessert – die Kameraüberwachung verschwand, mit den Gewerkschaften sei gar ein Tarifvertrag abgeschlossen worden. Doch als Lidl wieder aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwand, sei wieder „aus Mensch und Maschine das optimale rausgepresst“ worden. Viele hätten sich gar „wie Zwangsarbeiter im Straflager“ gefühlt, berichtet Wallraff. „Die jetzt raus sind, empfinden das als eine Befreiung.“ Der Undercover-Rechercheur unterstützt sie nach eigenen Angaben mit dreitausend Euro, Teil eines Preisgeldes (5.000 Euro) von der rheinland-pfälzischen Landeszentrale für politische Bildung, die Wallraff für dessen Recherchen auszeichnete.

Der Bezirkssekretär der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Harald Fascella, stützt Wallraffs Version ohne Einschränkungen: „Eine Kündigung aus eigenem Antrieb heraus hätten sich viele gar nicht leisten können.“ Die Beschäftigten der Bäckerei seien „ungelernte Hilfsarbeiter“ gewesen, die am Existenzminimum genagt hätten. Fascella räumte ihnen „kaum eine Chance“ auf einen neuen Job ein und betont: „Wer eine Beschäftigung selbst kündigt, dem versagt die Arbeitsagentur das Überbrückungsgeld.“ Von dieser Zwangslage berichtete dem „medium magazin“ auch eine ehemalige Arbeiterin der Bäckerei. Sie sagt: „Dass es so gekommen ist, ist die beste Entscheidung, die unser ehemaliger Chef jemals getroffen hat.“

Daniel Bouhs

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 9 bis 9. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.