Ran an die Menschen

Die Jury für den Deutschen Lokaljournalistenpreis hat in den vergangenen 30 Jahren rund 10.000 Einsendungen gesichtet. Welche Trends stellen Sie fest?

Dieter Golombek: Diejenigen, die wir auszeichnen, arbeiten konzeptionell. Das hat zur Folge: Die Niveauunterschiede zwischen den Zeitungen sind noch dramatischer als vor 30 Jahren. Die einen machen ihren Trott weiter, die anderen machen sich genaue Gedanken, was Zeitung soll und was die Leser wollen. Sie stellen ihre Fragen aus der Sicht der Leser und setzen entsprechend Themen. Sie betreiben bewusst Agenda Setting und widersetzen sich den Verlockungen derjenigen, die Fertiges oder Halbfertiges anbieten, sie wissen, wie sie mit denen umzugehen haben, die permanent ins Blatt drängen.

Neue Konzepte machen Mehrarbeit?

Ja. Und das wird noch mehr, wegen Trend 2: Es werden mehr Menschen ins Blatt geholt, Themen hängen sich über Personen auf. Ich nenne als Beispiel die „Bremer Begegnungen“, ein Teil des Konzepts des „Weser-Kurier“, der dafür dieses Jahr mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Die Redaktion bringt Menschen zusammen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, etwa eine Hebamme und einen Bestatter. Der Schreiber bringt diese Menschen zum Klingen, die sonst so gut wie nie Gegenstand der Berichterstattung sind. Durch sie kommen Themen zur Sprache, die den Menschen bewegen. Er liest und staunt und lernt auch noch dazu. Oder nehmen Sie die originelle Idee zum Thema 20 Jahre Mauerfall: Die „Berliner Morgenpost“ hat in 38 Doppelporträts immer einen Berliner aus dem Osten mit einem aus dem Westen zusammengespannt, die eine Gemeinsamkeit haben, den gleichen Beruf beispielsweise. Anhand der Personen wird die Geschichte des Zusammenwachsens dieser Stadt erzählt. Das ist Alltagsgeschichte, das lebt, das wird gelesen, dafür gab es übrigens den 2. Preis.

Geschichten werden am besten über Menschen erzählt.

Was ist daran neu?

In der Theorie wissen das alle Kollegen. Aber manche Weisheit muss sich die Redaktion immer wieder neu ins Bewusstsein holen und darf dabei nie vergessen: Gute Ideen brauchen eine gute Organisation. Die Frage stellt sich heute verschärft: Wie mache ich Zeitung für die Leser interessant? Sie sind die Auftraggeber des Journalisten. Auf ihre Interessen, ihre Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse muss sich die Zeitung ausrichten.

Was heißt das?

Man darf nicht in lieb gewonnenen Routinen stecken bleiben, muss sich gegen die eigenen, manchmal beamtenhaften Allüren zur Wehr setzen. Die Redaktionen müssen neue Wege gehen, neuen Ideen Raum geben, sie müssen sich streiten. Das setzt Offenheit voraus. Offenheit nach innen und nach außen, Staunen können. Der Journalist, der nicht mehr staunen kann, ist für mich ein schlechter Journalist. Gerade Lokalredakteure dürfen das Staunen nicht verlernen und sollen die Leser daran teilhaben lassen.

Sind gute – ausgezeichnete – Geschichten auch zugleich erfolgreich bei den Lesern?

Ich bin mir sicher, dass ja. Die Leserresonanz ist überdurchschnittlich hoch. Wobei zum Begriff Qualitätsjournalismus gesagt werden muss: Es geht nicht nur um die Sache, es geht genauso um die Mache.

Was raten Sie denjenigen, die auf der Suche nach Konzepten sind, um alte Leser zu halten und neue zu interessieren?

Die perfekten, für alle verbindlichen Rezepte gibt es sicherlich nicht. In dem Modell Bürgerzeitung, das die „Braunschweiger Zeitung“ betreibt und das wir 2008 ausgezeichnet haben, steckt viel Potenzial. Die Redaktion nutzt die Ideen der Menschen, sie begreift die Leser als Partner beim Zeitungsmachen. Der Weg ist das Ziel: Ran an die Menschen, auch als Ratgeber für die Zeitung. Wem es gelingt, dabei auch jüngere Leser einzubinden, der ist auf einem Königsweg.

Sie loben das Modell Bürgerzeitung. Welche Funktion bleibt den Journalisten dabei noch?

Bürger-Journalisten heilen die Zeitung nicht. Journalismus ist ein anspruchsvoller Beruf. Der Journalist muss sein Handwerk beherrschen – genauso wie der Arzt oder der Richter. Er darf und muss sich Anregungen holen, das professionelle Umsetzen eines Themas aber ist sein Metier. Journalisten werden mehr denn je gebraucht als Schreiber, Erklärer, Übersetzer, auch als Moderatoren, aber nicht als Besserwisser. Die klassische Chronistenfunktion ist in den Hintergrund gerückt, weil Funk, Fernsehen oder das Netz naturgemäß viel schneller sind. Früher war der Zeitungsjournalist für die Neuigkeiten zuständig, heute hat er eher mit Orientierung zu dienen. An Informationen leiden wir schon lange keinen Mangel mehr, wohl aber an verlässlichen und verständlichen Erklärungen. Da ist die eine große Marktlücke für die Zeitung.

www.kas.de/lokaljournalistenpreis

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 10 bis 10 Autor/en: Interview: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.