Stuttgarter Streitfall

Lokaljournalisten in Stuttgart haben derzeit keinen leichten Stand. Die Kollegen, eigentlich zuständig fürs Berichten, Einordnen, Kommentieren, finden sich mehr und mehr selbst in der Kritik. Erbitterte Leserbriefe und Online-Kommentare überschwemmen die Redaktionen, Abbestellungen sind an der Tagesordnung. Selbst altgediente Journalisten berichten von einer Emotionalisierung der Debatte und einer Intoleranz gegenüber anderen Meinungen, wie sie sie noch nie erlebt haben.

Im Zentrum der Kritik steht die „Stuttgarter Zeitung“ (StZ). Projektgegner werfen dem Blatt unkritische Nähe zur Landesregierung und zu den Projektträgern vor. Einer der prominentesten Kritiker ist der frühere Chefreporter der StZ, Josef-Otto Freudenreich. „Die Berichterstattung ist nicht ausgewogen“, sagt er über seinen ehemaligen Arbeitgeber und wirft ihm handwerkliche Fehler vor. StZ-Chefredakteur Joachim Dorfs weist dies von sich: „Es gibt keine Zeitung, die mehr zu Stuttgart 21 gemacht und fundierter berichtet hat. Wer sich über das Thema informieren will, kommt um die ‚Stuttgarter Zeitung‘ nicht herum.“ Er gibt allerdings zu: „Das Thema ist hoch emotionalisiert. Sie können es den Leuten nicht recht machen.“

Das geht allen Kollegen so, die sich mit „S 21“ befassen. Wolfgang Molitor, kommissarischer Chefredakteur der „Stuttgarter Nachrichten“ (StN), sagt: „Es gelingt uns nicht, Leser nicht zu verprellen.“ Er berichtet von einer Geschichte über das Bahnprojekt in seinem Blatt, auf die vier Abonnenten mit Abbestellungen reagierten. Zwei kamen von Projektgegnern, denen die Story zu unkritisch war, zwei von Befürwortern, die der Zeitung eine zu kritische Haltung vorwarfen.

Für Hans-Jörg Zürn, Verlagsleiter und Chefredakteur der „Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung“, ist das bezeichnend für die Art der Diskussion: „Das Thema polarisiert derart, dass die Leute andere Meinungen nicht mehr ertragen.“ Auch seine Kollegin Ulrike Trampus, Chefredakteurin der „Ludwigsburger Kreiszeitung“ hat diese Erfahrung gemacht. „Egal, was man macht, es ist falsch. Uns wird immer unterstellt, wir würden manipulieren.“

Druck im eigenen Haus?

Im Grunde bietet die Debatte um das Großprojekt eine ideale Situation für Lokaljournalisten: Die Materie ist vielfältig und strittig, an Themen und Ansprechpartnern herrscht kein Mangel, allerhöchstes Leserinteresse ist den Zeitungen gewiss. Aber genau hier liegt das Problem: Die Leser respektive User sezieren jeden Satz, der in der Zeitung steht, sie zählen die Zeilen, legen jedes Wort auf die Goldwaage. Sie vermuten hinter jedem Bericht Einseitigkeit und unterstellen den Journalisten Voreingenommenheit.

Für Josef-Otto Freudenreich haben die Zeitungen in Stuttgart zu lange den Projektträgern nach dem Mund geschrieben und es versäumt, den Streit zu moderieren. Freudenreich, der zum Jahresende 2009 seinen Abschied bei der StZ nahm, wirft nun seinem ehemaligen Blatt Mängel in der journalistischen Aufarbeitung des Konflikts vor. „Bis 2007 war es wirkliche Hofberichterstattung im Sinne der Betreiber.“ Erst nachdem 67.000 Menschen ein Bürgerbegehren unterschrieben, sei das Blatt etwas offener geworden. Dabei kritisiert er nicht die Kommentierung pro Stuttgart 21. „Die Meinung sei ihnen unbenommen; aber wenn es zu offensichtlichen Defiziten in der Berichterstattung führt, wird es schwierig.“ Die Gegner seien inzwischen sehr gut vernetzt. So könne man im Internet jederzeit die Informationen nachlesen, die nicht in der „Stuttgarter Zeitung“ stünden. „Ich halte das für journalistisch bedenklich“, sagt Freudenreich. Stattdessen hätte die Zeitung es lange versäumt, die Rolle des Mediators einzunehmen.

Immer wieder wird von Gegnern unterstellt, die StZ sei Teil einer „Spätzle-Mafia“, die das Großprojekt auf allen Ebenen befördert. Freudenreich ist bei dieser Verschwörungstheorie vorsichtig. Aber man dürfe schon fragen, welche Abhängigkeiten der Südwestdeutschen Medienholding, die die beiden Stuttgarter Blätter herausgibt, von der Landesbank es gebe.

Im Gegenzug gibt es den Vorwurf, Freudenreich sei selbst nicht unparteiisch, sondern Mitbegründer des sogenannten „Stuttgarter Appells“. Darin wird ein Moratorium und ein Volksentscheid gefordert. Freudenreich sagt, er habe diesen Appell, der von Pro- und Kontra-Seite gefordert werde, unterschrieben. Aber daraus nun abzuleiten, er sei die Speerspitze des Widerstands, sei schlicht lächerlich.

Joachim Dorfs, seit Januar 2008 Chef der StZ, will sich zu seinem Ex-Chefreporter nicht äußern. Die Kritik jedoch sei durch nichts belegt. „Seit ich Chefredakteur bin, hat es keinen einzigen Versuch gegeben, die Zeitung zu beeinflussen“, betont er. Hier seien eine Menge Legenden im Umlauf. Im Übrigen, so Dorfs: „Dass wir Distanz zur Landesregierung halten können, müssen wir nicht beweisen.“ Auch sein Kollege Molitor von den „Stuttgarter Nachrichten“ sagt: „Ich habe keinen Einfluss von Politik, Wirtschaft oder der Geschäftsführung erlebt. Der Druck geht zu 100 Prozent von den Lesern aus.“ Dies bestätigt auch ein leitender Journalist, der bei Konferenzen mit den Verlegern am Tisch sitzt. Der Kollege, der das Bahnprojekt kritisch sieht und nicht genannt werden will, betont: „Der Vorwurf des Filzes ist eindeutig falsch. Es gibt keinerlei Direktiven von Seiten der Verleger.“

„Klare Kante“.

Dorfs kann bei der StZ auch „keinen Schwenk in der Berichterstattung erkennen“. Er beruft sich immer wieder auf die journalistischen Standards: die Dinge benennen, die Leser informieren und auch eine Haltung zu dem Projekt beziehen. Zugleich lasse man alle Seiten zu Wort kommen, mit dem Ziel, den Dialog zu fördern. In den Hochphasen seien bei der StZ „zehn bis zwölf Leute mit dem Thema befasst, die bis zu sechs Seiten täglich nur zu Stuttgart 21 machen“. Dorfs: „Wir versuchen, das Thema so fundiert und objektiv wie möglich aufzuarbeiten; das ist unser Angebot an die Leser. Ich hoffe, dass sich das am Ende auszahlt.“ Molitor verfolgt dieselbe Linie. Nüchtern und sachlich bleiben, sei in der emotional aufgewühlten Stimmung wichtig. Gleichzeitig müsse man aber zu seiner Haltung stehen: „Die Zeitung muss eine klare Kante haben.“

Dies sei genau der richtige Weg, sagt Frank Roselieb vom Institut für Krisenforschung in Kiel. „Wir beobachten, dass Härte sich auszahlt. Die Weicheier will niemand mehr haben“, sagt der Krisenforscher. Für die Zeitungen im Streit um Stuttgart 21 bedeute das: „Einerseits beiden Seiten ein Forum bieten, aber andererseits klare Position beziehen.“

Auch wenn das Abbestellungen zur Folge hat. Bei den „Stuttgarter Nachrichten“ haben seit Jahresbeginn laut Molitor 60 Abonnenten mit der Begründung Stuttgart 21 das Blatt gekündigt. Bei der StZ liegen die Abbestellungen laut Dorfs „im niedrigen dreistelligen Bereich“. Zugleich stieg der Einzelverkauf. Laut Molitor für beide Stuttgarter Blätter an einigen Tagen sogar um mehr als 50 Prozent. Und bei den Zugriffen zum Online-Auftritt der beiden Zeitungen habe man eine Steigerung von über 14 Prozent gezählt.

Auswege gesucht.

Alle Chefredakteure beschäftigt die Frage: Wie kommen wir aus der Geschichte raus? Hans-Jörg Zürn von der „Sindelfinger Zeitung/Böblinger Zeitung“ versucht, allen Seiten ein Podium im Blatt zu bieten. Jedoch ist er nicht sicher, ob das fruchtet. „Andernorts hat der Protest die Leute geeint, hier spaltet er die Menschen.“

StZ-Chef Dorfs sagt: „Ich glaube an das Prinzip Journalismus.“ Die Zeitung müsse eine unabhängige Instanz sein und sie müsse sich mit den Lesern austauschen. Ulrike Trampus etwa erlebt nicht nur Kritik, sondern auch eine nie dagewesene Flut von Themenvorschlägen aus dem Leserkreis. Dorfs will dies nun intensiver nutzen. Er lädt Leser zu Konferenzen ein, greift ihre Vorschläge und Fragen auf. „Ich bin sicher, dass der Umgang mit den Lesern intensiver wird, das ist das Positive an der Geschichte.“ Auch Molitor setzt auf Dialog. Seine Zeitung veranstaltet seit Jahren Podiumsdiskussionen zu Stuttgart 21. „Ich sehe das als große Chance für die Ze
itung, unsere Qualitäten zu zeigen.“ Dabei kann er nur hoffen, dass die Streitparteien das auch annehmen. Für die nächste Podiumsdiskussion am 6. Dezember hat Molitor erstmals ein zusätzliches Security-Team für den Saal bestellt.

Link:Tipp

Ende September veröffentlichte die „Stuttgarter Zeitung“ ein achtseitiges Dossier „Die geteilte Stadt“, das auch im Internet abrufbar ist: http://bit.ly/csf6ez

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 24 bis 25 Autor/en: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.