Was Stuttgart fehlt, ist ein Schiller

Was um alles in der Welt ist bloß los in Stuttgart? Ein zutiefst sinnvolles Vorhaben, Eisenbahnschienen in einer engen Stadt unter die Erde zu verlegen, oben Platz zu schaffen für die Menschen und den miefigen Bahnhof durch ein weltoffenes Wahrzeichen zu ersetzen, mündet in Massendemonstrationen, Wasserwerfereinsätze und hinausgeschrieene Wut. Der biedere Schwabe, eher maulfaul, und pietistisch-fleißig, macht jetzt auf Revolution und beherrscht mit seinem Protest Tagesschau wie Tageszeitung.

Es sind ordentliche Bürger, viele CDU-Wähler, konservativ und bodenständig, die Mittelschicht und Oberschicht. Sicher, die immer wieder nach oben korrigierten Baukosten nerven die unangefochtenen Spitzenreiter von Bausparvertragsabschlüssen. Und die mindestens zehnjährige Baustelle Stuttgart 21 fördert den Frust im Talkessel und auf der Halbhöhenlage.

Aber erklärt das diese Eruption?

Sind das Gründe für diesen unerbittlichen Bürgerzorn? Es sind ja keine durchgeknallten Irren, die da demonstrieren, wenn auch Berufsopponenten mächtig mitmischen – und Protestierer aus anderen Großstädten, weil sie glauben, das Stuttgarter Bahnprojekt verschlinge so viel Geld, dass für sie nichts mehr übrig bleibe.

Seit 15 Jahren wird Stuttgart 21 geplant, gerechnet und auch diskutiert. Die Parlamentssitzungen von Landtag und Stadtrat waren immer öffentlich. Die lokalen Zeitungen berichteten ausführlich, stellten den Platz für das Pro und Contra und ließen die Leserbriefspalten für alle Seiten offen.

Und trotzdem fühlen sich die protestierenden Bürger nicht ausreichend informiert, verlangen nach Zahlen, Daten, Fakten und erhoffen sich Hilfe von einem Schlichter, der keinen Gegenstand zu schlichten hat. Jeder weiß es: In dieser Frage kann es keine Kompromisse geben. Die Schienen kann man nicht nur ein bisschen unter die Erde legen.

Ausgerechnet in einem Zeitalter der Überinformiertheit, des nie versiegenden Nachrichtenflusses, fühlen sich die Bürger desinformiert. Es sind gut ausgebildete und gebildete Menschen, ein internetaffines Publikum, das an alle Informationen kommt, die es braucht. Eine Schicht, die Zugriff auf Planungsunterlagen, die Einfluss in den politischen Gremien und auf die politischen Akteure hat und – gerade in Stuttgart – weiß, wie man die Fäden in der „Spätzle-Connection“ spinnt, also die „kurzen Drähte“ zu bedienen weiß.

Echte Versäumnisse.

Trotzdem ist einiges schief gelaufen, und total schief gelaufen ist die Kommunikation. Gerade im Zeitalter der Überinformation brauchen die Menschen einen Kompass, der ihnen die Richtung zeigt und sie mitnimmt auf den langen Weg. Das hätte schon in einem viel früheren Stadium passieren müssen. Und diesen Kompass muss eine Leitfigur spielen, die den Menschen eine Vision in einer immer komplexeren Welt gibt, die ihnen die Sehnsucht des Reisens vermittelt und sie zu Bewunderern eines modernen, weltoffenen Bahnhofes macht, der andere Menschen willkommen heißt.

Ein romantischer Vorschlag? Ein blauäugiges Weltbild? Mitnichten. Siege werden nur über die Bedienungstaste Leidenschaft gewonnen, nicht mit dem Hinweis, dass alles rechtsstaatlich zustande gekommen ist. Aber dafür braucht es kommunikative Leitfiguren, das ist nicht an Kommunikationsagenturen zu delegieren. Kommunikation ist Chefsache.

Die Stadt hat vieles versäumt oder falsch angepackt, das Land auch und die Bahn ebenso. Die Zeiten einer patriarchalischen Informationspolitik sind vorbei, der selbstgefällige Politikstil von oben herab ist erwiesenermaßen kontraproduktiv. Erst entscheiden und sich dann überlegen, wie man es den Leuten beibringt, funktioniert nicht mehr. Die Stuttgarter sind ja, anders als sie behaupten, informiert, eher überinformiert. Kommunikation ist aber keine Hauruck-Handlung, Kommunikation ist ein Prozess, ein Weg, auf dem auch Zweifler mitgenommen werden können.

Im Stuttgarter Hauptbahnhof ist unter der Decke des Hauptgebäudes der Schwaben größter Dichter verewigt: „Brüder ‚über’m Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.“ Wer in der „Ode an die Freude“ weiterliest, findet die Antwort für Stuttgart 21: „Wenn gute Reden sie begleiten, dann fließt die Arbeit munter fort“.

Es wäre nicht der schlechteste Rat an die Politik, hin und wieder bei Schiller nachzuschlagen. Er hätte schon früher als Blaupause für eine professionelle Kommunikationspolitik herhalten können.

Übrigens: völlig kostenlos. Und das ist in Stuttgart ein Wort.

Anton Hunger (62) ist Journalist und war 17 Jahre Pressechef bei Porsche. Heute betreibt er das Kommunikationsbüro „publicita“ in Starnberg.

Er ist u. a. auch Mitgesellschafter von „brand eins“.

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „PR“ auf Seite 48 bis 48. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.