Weimers Aura

Interview: Annette Milz, Bernhard Hübner

Helmut Markwort hat einst „Focus“ mit dem Spruch „Fakten, Fakten, Fakten“ geprägt. Welchen Claim geben Sie dem neuen „Focus“?

Wolfram Weimer: Ich bin kein Freund von Claims. Ich bin eher ein Freund von gutem Journalismus. „Fakten, Fakten, Fakten“ hatte zu seiner Zeit punktgenau ausgedrückt, was die Magie dieser Marke ausmacht. Nur: Die Revolution, die wir im Medienbetrieb erleben, hat den Claim von damals ein Stück weit obsolet gemacht. Fakten stehen heute im Internet. Der Leser erwartet von einem Printtitel eine größere Nachhaltigkeit, als er sie im Netz findet, also Einordnung, Interpretation, Analyse. Deshalb muss heute „Relevanz“ die Aura des „Focus” ausmachen. Wir müssen fundierter werden.

Was verstehen Sie unter fundierter?

Wir können uns nicht mehr verlassen auf eine reine Nachrichtenhaltigkeit. Wir müssen unser Profil als Nachrichten- und Orientierungsmagazin schärfen – journalistisch in der Tiefgründigkeit der Recherche wie politisch in Fragen der Positionierung. Die Grundlegitimation von „Focus“ liegt in seiner Position als bürgerliches Gegenstück zum „Spiegel“. Und diese Rolle eines politischen Antagonisten, der bürgerlichen Stimme in diesem Land, gilt es wieder stärker zu betonen. Diese Rolle ist „Focus“ auf den Leib geschnitten, sie muss nun profiliert und gelebt werden.

Wie viele von Ihren eigenen Ideen für den neuen „Focus“ haben Sie bereits umgesetzt?

Wir verfolgen eine völlig neue Titelstrategie, wir haben einen komplett neuen Hefteinstieg, mit einem visuellen Portal. Der Heftausstieg mit dem Ressort Menschen ist völlig neu, in der Heftmitte gibt es das neue Debattenressort. Wir haben die beiden Großressorts Inland und Ausland fusioniert sowie die zwei anderen Großressorts Kultur & Modernes Leben zu einem neuen zusammengelegt, wir haben auf eine elektronische Bildorganisation umgestellt, was wiederum neue Arbeitsabläufe bedingt. Das heißt, es hat sich in der Redaktion so ziemlich alles verändert. Dazu kommen viele Personalentscheidungen und nun auch noch der Umzug in neue Räume. Mit Blick auf die gesamte Wegstrecke sind wir jetzt zu etwa 80 Prozent durch. Die Strukturen sind nun im Wesentlichen klar. Jetzt beginnt die Arbeit im journalistischen Detail und damit die eigentliche Herausforderung: Wir müssen das Qualitätsversprechen, das wir mit dem neuen „Focus“ abgeben, auch einlösen. Das ist der schwierigere Part. Da starten wir jede Woche sozusagen bei null.

Was versprechen Sie sich von der Zusammenlegung der Großressorts?

Eine neue Form von politischer Berichterstattung. Die bisherige, scharf konturierte Abgrenzung von Inland und Ausland entspricht nicht mehr dem Lebensgefühl der heutigen jüngeren Globalisierungsgeneration, die eine europäische ist und viele Themen gar nicht in Kategorien In- und Ausland wahrnimmt. Wenn Apple ein neues iPad herausbringt, ist das kein amerikanisches Thema mehr, genauso wenig wie die Frage um die drohende Staatspleite Griechenlands ein Auslandsthema ist. Deshalb macht die klassische Auslandsberichterstattung so keinen Sinn mehr – und der neue „Focus“ soll diesem zunehmend globalen Interesse der jüngeren Generation Rechnung tragen. Das betrifft auch den Kulturbegriff, der sich in kein Opernhaus mehr einschließen lässt. Die faszinierendsten Prozesse passieren doch heute in den Crossover-Erscheinungen der Kultur. Auch das lässt sich nicht mehr in den traditionellen Kategorien von U und E abhandeln. Deshalb haben wir hier den Zuschnitt geändert.

Die Einzelverkaufszahlen zeigen ganz deutlich: „Focus“-Titel nach dem traditionellen Service-Strickmuster laufen noch immer am besten. „Die Biologie der Entspannung“ verkaufte sich im August über 131.000 Mal am Kiosk, ein Aufschwung-Titel mit Wirtschaftsminister Brüderle dagegen nur 98.000 Mal. Nehmen Sie das bewusst in Kauf?

Diese These stimmt nur zum Teil. Nehmen Sie etwa den Titel über Thilo Sarrazin – so ziemlich das Gegenteil von Nutzwertjournalismus und der „Biologie der Entspannung“. Der hat sich sehr gut verkauft. Dass wir in den vergangenen Jahren fallende Auflagen hatten, ist nicht zu leugnen. Dass diese Entwicklung mit sehr pointierten Nutzwert-Titeln ein Stück weit gebremst werden konnte, stimmt auch. Dennoch wollen wir in Zukunft eine neue Mischung wagen, ein neues Qualitätsangebot machen, das vital an den großen Debattenlagen der Nation dranbleibt. Unter Politik der Relevanz verstehe ich keineswegs nur rein politische Titel. Wir werden auch viele Titel aus dem gesellschaftspolitischen Raum machen – so wie „Angriff aufs Gymnasium“, ein Titel der sich übrigens sehr gut verkauft hat. Ich bin fest überzeugt, dass unsere Strategie der Relevanz und Aktualität aufgeht und wir so im nächsten Jahr in der Einzelauflage und im Verkauf ein deutliches Stück zulegen werden.

Aktualität und Nachrichten gehen gewöhnlich miteinander einher. Sie sagten aber, dass Nachrichten heute vor allem im Internet stattfinden. Was verstehen Sie dann unter Aktualität?

Es geht mir nicht mehr um einen Referentenentwurf zur Gesetzesvorlage zur Hausdämmverordnung, den wir exklusiv haben und damit eine Meldung von dpa erreichen. Mir geht es um Einordnung. Wie schwach ist Angela Merkel wirklich? Was habe ich von den tektonischen Verschiebungen in der Union zu erwarten? Wir interessieren uns für die Unterströmungen hinter dem Nachrichtengekräusel, und nehmen aktuelle Gemengelagen zum Anlass, um einzuordnen, was wirklich hinter den Kulissen passiert.

Sie haben beim „Focus“ ein Team für investigative Recherche aufgestellt. Was sollen die Redakteure Ihnen liefern, wenn nicht die exklusive Meldung für die Agenturen?

Die großen Geschichten. Ein Beispiel: Im Fall Jörg Kachelmann war der „Focus” den ganzen Sommer über deutlich vorne in der Nachrichten-Präsenz, was auch der „Spiegel“ anerkennt. Weil wir die Dokumente und Akten hatten, weil wir alle Hintergründe recherchiert hatten – ein klassisches Feld für so ein investigatives Ressort. Es gibt immer wieder Nachrichtenlagen, die fallen nicht aus dem kontinuierlichen Prozess der jeweiligen Ressorts an. So wurde das Testament von Ferdinand Piëch von unserer Investigationsredaktion recherchiert und zu einer erfolgreichen Titelgeschichte. Jetzt haben wir eine Einheit von besonderen Reportern, deren Leidenschaft es ist, fallweise Themen zu übernehmen und auszurecherchieren.

Bisher hatte der „Focus” einen sehr eindeutigen Stil, Geschichten aufzuschreiben: eine undramatische Sprache, viele Fakten. Welchen Kurs geben Sie da nun vor?

Die Klarheit in der Sprache dürften wir nicht verlieren. Das wäre ein Fehler. Aber wir schaffen neue Formen, die eine größere Entschiedenheit ermöglichen. Deshalb haben wir in der Heftmitte das Debattenressort eröffnet – mit mehrfachen Effekten. Der eine ist: Große debattenfähige Stimmen können sich hier zu aktuellen Themen von gesellschaftspolitischer Relevanz artikulieren, Kompetenzträger, in überraschenden Konstellationen – fremde Autoren ebenso wie Mitglieder der eigenen Redaktion. Wir öffnen „Focus“ dem Autorenjournalismus und bieten eine Manege des Ideenwettstreits.

Der zweite Effekt: Die Meinung hat nun einen klaren Ort im „Focus“. Das übrige Heft ist so von dem Magazin-Zwang befreit, Nachricht, Analyse und Meinungsfärbung zu vermischen. Wir können die Reportage als Reportage feiern, die Nachricht als Nachricht und das Meinungsstück als Meinungsstück. Diese Entschiedenheit der Formen war einmal eine Stärke der Marke „Focus“. Ich kehre nun zu Urkraft der Marke zurück. Ich würde aber nie wie „Newsweek“ ein reines Debattenmagazin machen. Das sollte „Focus“ nie sein und wird es auch nicht.

Debatte beinhaltet aber auch Kontroverse. Davon war allerdings bisher noch nicht so viel zu spüren in den Meinungsbeiträgen.

Das wird ganz bestimmt kontroverser, und natürlich wird es auch Pro&Contra-Formate geben. Deswegen lade ich hiermit auch ganz offiziell Autoren ein, Stellung zu beziehen zu relevanten Fragen der Zeit. Kommen Sie in das Debattenforum von „Focus”. Hier haben Si
e eine Möglichkeit, sich zu artikulieren.

Wen genau laden Sie denn ein, welche Autoren-Eigenschaften wünschen Sie sich?

Die Kraft des Argumentes, die Faszination der Sprache, die Originalität der Perspektive und, wenn man so will, die Prominenz und Kompetenz eines Autors. Ein Beispiel: Wenn Martin Walser früher in der „Zeit“ ein Manifest gegen den Afghanistan-Krieg geschrieben hat, dann möchte ich, dass er das fortan im „Focus” tut. Wenn Angela Merkel einmal einen Emanzipations-Brief gegen Helmut Kohl in der FAZ veröffentlicht hat, dann möchte ich, dass das in Zukunft im „Focus” möglich wird. Und wenn Sigmar Gabriel sagen will, er revidiert die Politik von Gerhard Schröder, weil er der Meinung ist, die Agenda-Politik war ein Desaster, dann ist er herzlich eingeladen das bei uns zu tun. Ich habe vor allem ein journalistisches Interesse: den Leser zu faszinieren mit originären Beiträgen. Das ist der Maßstab.

Ihr Vorgänger und Focus-Gründer Markwort war bekennender Liberaler und FDP-Anhänger. Nun taucht häufig der Begriff „konservativ“ in „Focus” an prominenten Stellen auf. Steht das für einen politischen Richtungswechsel?

Ich glaube, ich bin nicht minder liberal als Helmut Markwort, auch wenn ich parteilich nicht gebunden bin. Dass das Wort „konservativ“ in den letzten drei Monaten eine große Rolle gespielt hat, lag nicht daran, dass wir das inszeniert hätten, sondern dass es eine Konservativismus-Debatte in Deutschland gibt. Ich habe mich mit dem Thema in den vergangenen zwei Jahren sehr intensiv befasst, etwa in meinem Buch „Freiheit, Gleichheit, Bürgerlichkeit“. Insofern fühle ich mich ein Stück weit bestätigt, dass diese Debatte jetzt so groß geführt wird. Ich bin selbst ein bekennender Wertkonservativer. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich mich mit den Werten des Kulturkonservatismus in Deutschland identifiziere – also mit dem Familiären, Heimatlichen, der kulturellen Identität bis hin zu religiösen Facetten.

„Focus” soll personalisierter werden. Dazu passt auch die neue Rubrik „Menschen“ am Ende des Hefts. Nach dem Motto: „Von der ‚Bunten‘ lernen, heißt siegen lernen“?

Das wäre völlig falsch verstanden. Die Personalisierung hat eine semipolitische Komponente. Die Bürgerlichen betrachten die Welt ganz häufig über Personen. Sie haben das Individuum, das Familiäre, das Subsidiäre im Mittelpunkt und weniger die Klasse und die Gesellschaft. Wir akzentuieren den Gefühlsraum der bürgerlichen Welt. Im „Menschen“-Ressort berichten wir eben keinen Party-Tratsch. Beispielhaft für den Kurs steht die neue Rubrik „Mein Vater“/ „Meine Mutter“ über die Beziehung einer prominenten Persönlichkeit zur Mutter oder zum Vater – ein zutiefst bürgerliches Prinzip.

Sie haben Elemente wie die Debatte oder den Begriff „Salon“, aber auch Redakteure von „Cicero“ mitgebracht. Im neuen „Focus“ steckt, wie es scheint, viel „Cicero“.

Wenn Sie damit Klugheit, Originalität und Debattenanstoß meinen, dann haben Sie Recht. Aber aus „Focus” wird nie ein „Cicero“, denn „Focus” wird nie ein reines Debattenmagazin. Das Element des Debattenjournalismus ist für den neuen „Focus“ wichtig, aber „Cicero“ ist nur ein Einfluss von vielen.

Von wem lassen Sie sich noch beeinflussen?

Ich versuche mir das Beste aus allen Welten zu nehmen. Zum Beispiel hätte ich gerne von „Paris Match“ die visuelle Kraft, von „Time“ die Deutungsmacht und vom „Economist“ die analytische Klarheit und Präzision. Was andere richtig gut machen, soll man sich ruhig zum Vorbild nehmen. Es ist doch merkwürdig, dass ausgerechnet in unserer Branche Kontakte allzuoft an Landesgrenzen haltmachen. Dass wir uns in Zeiten, in denen alle Redaktionen sparen müssen, nach Möglichkeiten der Kooperation umschauen, sollte in Zukunft normal sein. Entscheidend ist aber, welche neuen Inhalte und Formen man daraus entwickeln kann.

Nun kooperieren Sie seit kurzem mit dem „Economist“. Wie funktioniert das?

Am „Economist“ interessiert mich natürlich das grandios besetzte Korrespondentennetz und die journalistische Substanz. Wir haben kompletten Zugriff auf alle Inhalte und die aktuelle Produktion des „Economist“. Neben dieser redaktionellen Vernetzung werden wir aber auch zum Jahresende gemeinsam ein neuartiges Jahresausblicksheft „The World in 2011“ auf den Markt bringen. Und wir erwägen 2011 mit den Engländern ein neues Lifestylemagazin „Intelligent Life“ auf den Markt zu bringen.

Sind weitere Kooperationen in der Planung?

Gerade reden wir auch mit anderen Redaktionen, zum Beispiel aus den USA und Frankreich. Ich kann mir vorstellen, dass daraus ein offenes Netzwerk großer Marken entsteht, das gemeinsam auch völlig neue Produkte auf den Markt bringt. Die Lufthansa fliegt auch nicht mehr allein durch die Welt, sondern ist Mitglied der „Star Alliance“. Es wird Zeit, dass wir auch im Journalismus strategische Allianzen schmieden – und so neue journalistische Formen kreieren können.

Welche Rolle spielt „Focus Online“ in ihren Planungen?

Ich bin überzeugt, dass gute Redaktionen alle Kanäle bespielen sollten, die ihnen zur Verfügung stehen. Daher sage ich: Lasst uns beide Welten umarmen und sehen, wie wir uns die Bälle zuspielen können. Bei allen Unterschieden in Ausrichtung und Umsetzung zwischen „Focus Online“ und Print wollen wir in Zukunft inhaltlich deutlich enger zusammenarbeiten, vor allem im Hinblick auf interaktive Möglichkeiten für Debatten.

Burda-Vorstand Philipp Welte hat um den „Focus” die „Burda News Group“ geformt und spricht von der „publizistischen Kraft von elf Magazinen und rund 350 Journalisten“. Das klingt, als sollten auch im eigenen Verlag redaktionelle Allianzen wachsen.

Es gibt beim „Focus“ überhaupt keine Planungen zur Zusammenlegung von Redaktionen oder für einen zentralen Newsdesk …

… dabei sind Sie darin doch Spezialist.

Weil ich einmal als Chefredakteur die „Welt“ und die „Berliner Morgenpost“ zu einem großen Newsdesk zusammengelegt habe? (lacht) Aber auch mit ambivalenten Erfahrungen, ehrlich gesagt. Eine meiner Lektionen aus diesen Prozessen in verschiedenen Häusern ist: Man sollte auf die Integrität der Marken achten. Sich journalistisch zu verbünden macht dort Sinn, wo man an Substanz gewinnt. Zum Beispiel indem man über Kooperationen an die besten Fotografen des Kontinents kommt. Es liegt an uns, in neuen Formen zu arbeiten und neue Konstellationen einfach mal auszuprobieren. Denn es wird Zeit, dass wir uns im Journalismus nicht immer nur in die Defensive drängen lassen, als sei Print ein Auslaufmodell, als sei Qualitätsjournalismus nicht mehr refinanzierbar. Der „Focus“ muss wieder in den Angriffsmodus gehen.

Wen wollen Sie denn künftig angreifen?

Der unmittelbare Konkurrent des „Focus” ist natürlich der „Spiegel“. Deutschland braucht zwei Titel, die zum Wochenauftakt die großen Lagen der Nation verarbeiten. Das will auch das Publikum. Dem bürgerlichen Publikum wollen wir eine publizistische Autorität bieten. Das ist die große Legitimation von „Focus” und deswegen werden wir diesen journalistischen Wettbewerb mit dem „Spiegel“ wieder stärker suchen.

Medium:Online

Weitere Aussagen von Wolfram Weimer zur Doppelcover-Strategie, Parteizugehörigkeit von Journalisten und zu „Stuttgart 21“ sind dokumentiert unter www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 10+11/2010 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 18 bis 20. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.