Chemiebomben und Bio-Äpfel

Es wird Zeit, Äpfel mit Äpfeln zu vergleichen. Dokus mit Dokus. Journalistische Filme in ARD, ZDF, Arte etc. mit Pseudo-Dokus auf RTL, Sat1 usw. Alles Doku, irgendwie. So wie chemisch behandelte Äpfel genauso zur Gattung Apfel gehören wie Bio-Äpfel. Eigentlich kein Problem, sollte man meinen, sie können ja friedlich nebeneinander existieren. Tun sie aber nicht. Die Bio-Äpfel der öffentlich-rechtlichen Sender verkaufen sich immer schlechter, die chemisch behandelte Billigware der Privaten dagegen läuft prächtig. Steht dem Fernsehen das Aussterben einer Art bevor, während sich eine andere wie wild vermehrt?

Die Wahl der Zuschauer

Ihr Interesse an Primetime-Dokus in ARD und ZDF nimmt ab. Lag die Schmerzgrenze für die Programmverantwortlichen vor wenigen Jahren noch bei einem Marktanteil von zehn bis elf Prozent, wärmt man sich heute an Marktanteilen von acht bis neun Prozent. Das muss all denen zu denken geben, die dokumentarischen Journalismus für eine Kernkompetenz der Öffentlich-Rechtlichen halten – und behalten wollen. Denn was steht am Ende dieser Entwicklung? Dokumentationen nur noch um Mitternacht und in Nischenprogrammen? Ist ja nicht so schlimm, die Zeit der Äpfel ist halt vorbei, meinen einige, im Moment mögen die Leute lieber Birnen (Talkshows, zum Beispiel), die sollen ja auch Vitamine haben. Nur: Was ginge verloren? Welchen Wert hat eine gut recherchierte, spannend erzählte Dokumentation?

Ein Beispiel aus einem fernen Land: Der iranische Dokumentarfilm „Letters to the President“ zeigt, wie unzählige Iraner sich mit Briefen an ihren Präsidenten wenden und ihm ihre Sorgen schildern – und wie Ahmadinedschad dieses Vertrauen eiskalt ausnutzt. Das ganze Briefeschreiben an den Präsidenten – ein großer Schwindel. Der Mann gibt vor, jeden Brief ernst zu nehmen und lässt seine Helfer mit Floskeln antworten. Man bekommt in diesen archaischen 75 Minuten ein Gespür dafür, wie Ahmadinedschad tickt, ein Mann, der sonst nur in unseren Nachrichten lebt – als Israel-Feind und Bombenbauer. Er pflegt eben auch ein ungeheuer zynisches Verhältnis zur eigenen Bevölkerung. Man versteht durch den Film, wie Macht funktioniert – und wie Macht missbraucht wird. Solche Erlebnisse kann im Fernsehen nur Dokumentar-Journalismus erzeugen.

Geschmackssachen

Zwar ist es Mode, sich als Doku-Fan zu outen („ich sehe im Fernsehen nur noch Dokus“, „Arte ist mein Lieblingssender“ o. Ä.), aber die Einschaltquoten sprechen eine andere Sprache. Dokumentationen können mit Shows und Fußball nicht mithalten. In einer Branche, die sich an Zahlen orientiert, eigentlich ein Todesurteil. Sollen die Lebensmittelgeschäfte ihre Äpfel also aus dem Sortiment nehmen? Das wird so schnell nicht passieren. Denn die Verbraucher haben den Appetit auf Äpfel, also auf Dokumentarisches, ja gar nicht verloren, ihr Geschmack ändert sich nur. Vor allem RTL hat noch nie so viele Dokus gesendet wie im Augenblick. Der Sender vertraut windigen Ratgebern, ebenso Scripted-Reality wie „Familien im Brennpunkt“, selbst Gauklern, die vorgeben mit dem toten Uwe Barschel zu sprechen. Billigware in jeder Hinsicht, massiv chemisch behandeltes Obst. Bleiben wir kurz beim toten Uwe Barschel. Vor drei Jahren sendete die ARD unsere Dokumentation „Der Tod des Uwe Barschel – Skandal ohne Ende“. War es Mord, Selbstmord, Sterbehilfe? Ein Vergleich der Thesen, Hintergrundinformationen. Zehn Monate Arbeit von drei Rechercheuren und entsprechende Investitionen des NDR wurden mit einem Marktanteil von elf Prozent belohnt. Im Herbst 2010 schickt RTL „Das Medium“ auf Spurensuche. Eine Frau, die vorgibt, mit Toten zu reden, reist durchs Land und macht auch bei Freya Barschel halt, der Witwe. Und siehe da: Das RTL-„Medium“ löst den Fall. Und erfährt vom toten Barschel:„Ich bin ermordet worden!“ Investition: ein Drehtag. „Das Medium“ erreicht 13,4 Prozent der Zuschauer. Warum sollte RTL eine aufwendige Doku in Auftrag geben, wenn sich mit weniger Einsatz mehr Quote erreichen lässt? Die Kollegen bei Sat1, Vox usw. wollen ebenfalls ihr Stück vom Apfelkuchen abhaben. Die Vox-Doku-Soap „Daniela Katzenberger – natürlich blond“ etwa – eine andere Variante des TV-Trashs – begeistert die Zuschauer auch mit großen Brüsten. Aus Plastik.

Die Öffentlich-Rechtlichen sind nicht ganz schuldlos am Niedergang ihrer Dokus. Sendeplätze brauchen – wenn nicht chemische Hilfsmittel eingesetzt werden sollen – Pflege, Geduld und Geld. Wie Marken erfolgreich aufgebaut werden, zeigt die ZDF-Sendereihe „Terra X“.

Auch Doku-Dramen in der ARD und Event-Programmierungen (Spielfilm plus Doku) können in der Konkurrenz häufig bestehen. Aber das sind Ausnahmen, nicht die Regel. Oft werden Budgets gekürzt, Autorenhonorare sind ohnehin so niedrig, dass kreative Spitzenleistungen Zufallstreffer bleiben. Es gibt Redakteure, die sich für Qualität stark machen, Mittel und Sendeplätze dafür organisieren. Aber es sind wenige. Kann so ein ganzes Genre bestehen? Auch Produzenten und Autoren trifft eine Mitschuld. Wer schuftet noch für den Scoop, den Film, der Schlagzeilen produziert, eine Debatte anstößt? Wer macht sich noch die Mühe, große Themen groß zu erzählen – für ein großes Publikum? Wer präsentiert seine Filme auch offensiv in anderen Medien – Print, Hörfunk, Online – und macht auch Dokumentationen zu Fernseh-Ereignissen? Natürlich muss der Mix aus harten und weichen Themen stimmen, für die Sender, auch für die Produktionsfirmen. Aber die Branche ist längst mehrheitlich auf die Herstellung softer Stoffe umgeschwenkt. Die Aufweichung des Journalismus führt zum kreativen Ausbluten und zum Bedeutungsverlust des Genres.

Aber es gibt auch einen Zusammenhang zwischen der Nachfrageflaute der öffentlich-rechtlichen Bio-Äpfel und dem Boom der gespritzten Billigware. Denn für die Privaten ist Illusion das lukrativere Geschäft als Glaubwürdigkeit. Und wenn es das Publikum liebt, in die Irre geführt zu werden – wie die Briefschreiber an den iranischen Diktator –, dann sind die sogenannten Dokus eben alles: laut, schrill, anrührend – nur nicht echt. Weil immer mehr Fälschungen im Umlauf sind, ändern sich erst Geschmack und Einschaltquoten, dann die Programmgrundsätze der Sender. Sieht so also die Zukunft einer Gattung aus? Massenhaft mit Pestiziden behandeltes Obst im Supermarkt, und die paar gesunden Äpfel in Bioläden wie Arte, 3sat etc.? Natürlich ist nicht alles Bio, wo Bio draufsteht, auch bei den Öffentlich-Rechtlichen nicht. Und auch in die Privaten verirren sich gelegentlich gute Dokumentationen. Aber der Trend ist eindeutig.

Population in Gefahr

Nur: Sollten ARD und ZDF ihr eigenes Feld – den dokumentarischen Journalismus – räumen? Natürlich müssen sie auf die Pseudo-Dokus der Privaten antworten. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk darf sich nicht darauf beschränken, Bioladenkette für ernährungsbewusste Eliten zu sein. Er darf aber auch nicht zur Billigkette werden, die alles anbietet, was sich verkauft. Dokumentarischer Journalismus ist ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal. Was passiert eigentlich, wenn er zu weit an den Rand gedrängt wird – und ARD und ZDF sich Jahre später reumütig an die frühere Kernkompetenz Doku erinnern? Dann sind Autoren und Redakteure gänzlich mutlos geworden, ist wichtiges Know-how verloren. Das Genre wiederzubeleben, wird dann kaum möglich sein.

Die Branche braucht den täglichen Quoten-Druck. Nur so gibt es eine permanente Rückkopplung zwischen Machern und Zuschauern. Aber der Wert von Journalismus lässt sich nicht nur in Zahlen messen. Der gesellschaftliche Nutzen der privaten Pseudo-Dokus mag gegen null tendieren. Die öffentlich-rechtlichen Dokus müssen dagegen auf ihren Nutzwert fürs Publikum abgeklopft werden: Welche Informationen vermitteln sie, welche E
rkenntnisse, welche Meinungen bilden sie. Dann haben sie eine Existenzberechtigung, selbst bei geringeren Einschaltquoten. Wer dokumentarischen Journalismus erhalten will, muss ihn nicht dulden, sondern stärken – mit all dem, was die Öffentlich-Rechtlichen von den Privaten unterscheidet: Gebührengeld, gewachsene Glaubwürdigkeit, journalistische Kompetenz. Bei Wikipedia steht zum Thema „Artensterben“ der schöne Satz: „Arten sterben dann aus, wenn sie auf Dauer nicht in der Lage sind, sich so stark zu vermehren, dass ihre Populationsgröße erhalten bleibt.“

Zur Person

Stephan Lamby (51) ist seit 1997 Geschäftsführer von ECO Media TV-Produktion. Als Autor hat er zahlreiche politische Dokumentationen hergestellt, etwa über Henry Kissinger, Helmut Kohl, Fidel Castro, Angela Merkel, Oliver Stone, die Finanzkrise. Stephan Lamby ist Mitglied der International Academy of Television Arts & Sciences. Seine Filme (u. a. zuletzt „Retter in Not“, „Steinbrücks Blick in den Abgrund“, „Der große Rausch“) wurden vielfach ausgezeichnet. www.ecomediatv.de

Erschienen in Ausgabe 12/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 28 bis 29 Autor/en: Stephan Lamby. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.