Schauspieler Robert Downey jr. springt wie ein Derwisch im Studio herum und spricht wie sein Alter Ego im Hollywood-Film „Sherlock Holmes“. Fotos verwandeln sich in Videos, eine Modestrecke wird zur animierten Modenschau in verschneiter Landschaft. Vor einem Jahr kam das Magazin „Esquire“ mit seiner „Augmented Reality Edition“ heraus. Um die Spezialeffekte erleben zu können, musste man das Heft vor die Kamera seines PCs halten. Nach Informationen des „Wall Street Journal“ soll der Hearst-Verlag, in dem „Esquire“ erscheint, einen sechsstelligen Betrag in die spektakuläre Sonderausgabe investiert haben. Das Prinzip von Augmented Reality (AR): Bei dieser Technologie legt sich eine virtuelle „angereicherte Realität“, die nur auf dem Bildschirm zu sehen ist, über die eigentliche Wirklichkeit.
Bislang wird vor allem in der Werbung mit AR experimentiert. Lego lässt in seinen Flagship Stores virtuelle Modelle frei im Raum schweben, wenn man die Verpackung vor eine Spezialkamera hält. Auf dem Portal seventeen.com gibt es seit August 2010 virtuelle Anproben des Labels ycpteen von JC-Penny – per Kamera und Mikrofon können Teenies ihr abgefilmtes Ebenbild virtuell anziehen. Ahnliches bieten auch die Brillenhersteller Atol und Ray-Ban zum Ausprobieren ihrer Kollektionen. Laut Jan Schlink liegen die Hauptanwendungsbereiche von Augmented Reality eher im Marketing als in redaktionellen Bereichen. Schlink ist Sprecher des Münchner Unternehmens Metaio, einer Agentur, die sich auf AR-Anwendungen spezialisiert und den mobilen AR-Browser Junaio entwickelt hat. „Bei diesen Szenarien brummt es gerade“, so der AR-Spezialist. Metaio hat jüngst für die Restaurantkette Sausalitos und Coke Zero eine AR-Printkampagne gestartet. Dabei werden die von der Handy-Anwendung erkannten Anzeigenmotive mit digitalen Inhalten überlagert. „Virtuelle Anwendungen könnten aufgrund der neuen Interaktions- und Kundenbindungsmöglichkeiten die klassische Printwerbung revolutionieren“, glaubt Schlink.
Vom Heft ins Feld
In Deutschland haben das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ und die „Rhein-Zeitung“ vor einigen Monaten mit AR-Anwendungen experimentiert. Um einen Beitrag über Augmented Reality zu veranschaulichen, füllte die Magazin-Redaktion der SZ im August 2010 in Zusammenarbeit mit Metaio eine Ausgabe mit virtuellen Zusatzinformationen. Auf dem Titelbild nimmt Sandra Maischberger die Hände vom Gesicht und lächelt, wenn man sie durch den AR-Browser betrachtet. Über einer Fotoserie mit Lena Meyer-Landrut erscheinen Sprechblasen mit Kommentaren der Grand-Prix-Gewinnerin während des Shootings. Die Animation der Axel-Hacke-Kolumne wird dreidimensional. Und ein Bauer aus Garmisch-Partenkirchen zeigt, wie es vor Ort aussähe, würden die Olympischen Spiele 2018 auf seinem Grundstück stattfinden: Statt Kühen stünden weit und breit nur noch Autos auf dem Feld. Außerdem zeigt der AR-Browser unterwegs auf Münchens Straßen die Lieblingsrestaurants, -bars und öffentlichen Plätze der Redakteure an. Über ein kleines Symbol auf den entsprechenden Seiten wurden die Heftleser darauf aufmerksam gemacht, an welchen Stellen es etwas zu entdecken gab.
Nutzen konnte man die Anwendungen nur mit einem iPhone 3GS oder einem Android-Handy und dem Junaio-Programm. Die statistische Auswertung ergab: 20.000 Nutzer öffneten das Programm des „SZ-Magazin“ innerhalb von sechs Tagen in ihrem mobilen Browser und rund 9.000 ließen sich per Handy von den „SZ-Magazin“-Redakteuren virtuell durch München führen. Einen Marketingeffekt hatte die Aktion aber weit über die Zielgruppe der entsprechend technisch ausgestatteten Leser hinaus: Schon nach wenigen Tagen hatte die Aktion weit über 5.000 Erwähnungen im sozialen Netz (Twitter, Facebook und Co.) bekommen. Über 100 Blogs und Fachmagazine berichteten über die Aktion. Und das Sekretariat musste Interviewanfragen und Heftversandwünsche aus aller Welt bedienen. Dennoch sei die Aktion vorerst als einmaliges Experiment angelegt gewesen, „um die Technik erlebbar zu machen und nicht nur abstrakt darüber zu berichten“, so Dominik Wichmann, Chefredakteur des „SZ-Magazin“. Weitere konkrete Projekte gebe es derzeit nicht, allerdings mag er das für die Zukunft „auf keinen Fall ausschließen“.
Keine Zukunftsmusik mehr
Auch die „Rhein-Zeitung“ koppelte ihr AR-Experiment im Februar 2010 mit einem großen Bericht über den spielerischen Einsatz dieser Technik. „AR nur gedruckt zu erklären, schien uns dürftig“, so Chefredakteur Joachim Türk. Auf der Seite mit dem Bericht gab es zwei AR-Marker – der eine startete ein Video, der andere erweckte das Maskottchen „Summi“ zum virtuellen Leben. Online gab es ein erklärendes Video. Die AR-Online-Seiten wurden laut Türk am Erscheinungstag knapp 4.000 Mal abgerufen. Um die RZ-Anwendung zu nutzen, reichte anders als bei der SZ ein PC mit Kamera. Auch bei der „Rhein-Zeitung“ gilt das Experiment als gelungen. Kein einziger Leser habe gefragt: „Was soll der Quatsch?“, so Türk. Im Gegenteil, viele hätten sich darüber gefreut, dass die Redaktion eine Zukunftstechnologie so anschaulich erklärt habe. Mehrere Leser schickten über Twitter und Facebook Screenshots mit der Anwendung in Aktion und auch von Anzeigenkunden wurde die „Rhein-Zeitung“ auf das Thema angesprochen. Allerdings sieht man bei der RZ die Anwendungsmöglichkeiten für regionale Werbekunden noch als begrenzt an.
Die „Rhein-Zeitung“ hat das Thema laut Türk nach wie vor auf der Agenda – vor allem, weil die Technik große Fortschritte gemacht habe und sich viele Anwendungen, für die sonst ein Desktop-PC notwendig war, inzwischen auch für Smartphones umsetzen lassen. „Redaktionell hemmt uns die Vorlaufzeit für die Produktion“, sagt der Chefredakteur. Die zusätzlichen Kosten seien „vertretbar, wenn durch AR ein deutlich nachvollziehbarer Mehrwert generiert wird“. Und auch Dominik Wichmann betont: „Augmented Reality ist keine Zukunftsmusik mehr, in einigen Jahren wird es da sehr konkrete journalistische Formen und Möglichkeiten geben.“
Konkrete redaktionelle Ideen hat Metaio-Experte Jan Schlink. Journalisten könnten seiner Meinung nach über die Technologie weitere Erzählebenen in ihre Berichte einbauen – beispielsweise Stichworte mit weiterführenden Informationen anreichern, ohne dass der Leser die Zeitung beiseitelegen oder ins Internet wechseln muss. Mittels AR könnten Zeitungen und Zeitschriften zu Echtzeitmedien werden. „Das Handy wird zur Fernbedienung und das Printmedium zum Anker in der Realität für visuell ansprechende und permanent aktualisierte Daten“, so Schlink. So könnte zum Beispiel das Aufmacherbild mit einem Video aus der Online-Redaktion verknüpft werden. Oder eine Info-Grafik mit einer 3D-Animation. Oder ein Diagramm aus dem Wirtschaftsteil etwa mit Echtzeitdaten des Kursverlaufs. Für Regionalzeitungen kann sich der AR-Experte beispielsweise redaktionelle Informationen zu kommunalen Projekten vorstellen, die ortsbezogen im mobilen AR-Browser angezeigt werden. Die Leser wollen schließlich wissen: Wie geht das eigentlich jetzt weiter, welche Entscheidungen sind gefallen, was ist der Stand der Dinge? – „Mit einem redaktionell aufgearbeiteten Artikel, der an Ort und Stelle ‚schwebt‘, sind die Antworten schnell gefunden“, sagt Schlink.
Link:tippS
Erklärfilme auf youtube.com über verschiedene AR-Experimente: „SZ-Magazin“: http://bit.ly/ch7RNR „Esquire“: http://bit.ly/1cnUHz
„Seventeen“: http://bit.ly/dc9cer
Das AR-Archiv der „Rhein-Zeitung“:
http://archiv.rhein-zeitung.de/ar
Browser speziell für AR-Anwendungen:
www.junai
o.com
Erschienen in Ausgabe 12/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 38 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.