Stürmisch wehte gelbes Laub quer über die letzte Titelseite des „Rheinischen Merkur“. Die Zeitung Ende November wurde zur Abschiedsausgabe, Schlagzeile: „Herbst im Blätterwald“. Das katholische Traditionsblatt wurde nach 64 Jahren eingestellt. Die Gesellschafter, die die Wochenzeitung finanzierten, darunter Bistümer und die Deutsche Bischofskonferenz, wollten die Zuschüsse nicht mehr zahlen. Ende September beschlossen sie, das Bonner Blatt in seiner bisherigen Form zu beerdigen und in Kooperation mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ als Beilage wiederauferstehen zu lassen. „Geistliches und Geistiges“ wünschte sich „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo als Inhalt.
Seit Anfang Dezember nun erhalten die aktuellen RM-Abonnenten diese Beilage – zusammen mit der „Zeit“. Der Titel des zusätzlichen Buchs ist einem RM-Ressort entlehnt: Auf den sechs Seiten „Christ und Welt“ werden die Leser bekannte Elemente wie die Leitartikel und diverse Kolumnen wiederfinden, die herausnehmbare Seite in der Mitte wurde unter dem Namen „Großaufnahme“ zum Spielraum für einen Themenschwerpunkt, lange Interviews, große Portraits. Auch Stammautoren werden weiter mit an Bord sein, darunter auch der bisherige Chefredakteur Michael Rutz.
„Die Alternative wäre gewesen, die Abonnenten-Adressen zu verkaufen“, sagt Michael Rutz. Die Beilagen-Variante sei zumindest eine „kleine Kompensation“. Er wird von nun an erst einmal frei arbeiten, alles andere finde sich. „Eine vollständige Zeitung in eine Beilage zu verwandeln, noch dazu beim Konkurrenzblatt, ist schon ein gewisses Wagnis“, sagt Christiane Florin, die 14 Jahre beim RM arbeitete. Bislang als Leiterin des Feuilletons, jetzt verantwortet sie die Beilagen-Produktion, für die „Zeit“ koordinierte Politik-Redakteur Patrik Schwarz die Heftentwicklung und wird es die ersten Monate von Bonn aus betreuen. Von der alten Mannschaft sind sechs Redakteure von „Christ und Welt“ mit an Bord; nicht alle auf Vollzeitbasis, das aber „auf eigenen Wunsch“, so Florin. „Von den anderen haben viele bereits eine neue Beschäftigung“, erklärt Michael Rutz.
„In diesen Zeiten bräuchten die christlichen Kirchen nichts dringender als eine publizistische Öffentlichkeit“, sagt Rutz. „Die Menschen haben ein Bedürfnis nach Orientierung, Kirche muss in der Mitte der Gesellschaft stattfinden“, doch das Ende des RM wie auch des „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt“ vor zehn Jahren stehe eher für einen Rückzug. Dass das katholische Blatt nun ausgerechnet bei der „Zeit“ eine neue Heimat findet, passt zum neuen Konzept des Hamburger Wochentitels: Schließlich wurde gerade erst das neue Ressort „Glauben und Zweifeln“ gegründet, das sich Glaubensfragen allgemein annimmt. „Obwohl jeder Chefredakteur auch die ökonomischen Realitäten im Blick behalten muss“, versicherte „Zeit“-Chefredakteur di Lorenzo in einem offenen Brief an die RM-Leser, „war mein Motiv dabei kein kommerzielles.“ Er sei überzeugt, „dass die Stimme des ‚Rheinischen Merkur‘ in der Berliner Republik nicht verstummen darf“. „Rheinischer Merkur“ und „Zeit“ hätten mehr gemeinsam, als viele dächten. „Wie Hesse schon sagte“, fügt Rutz noch an: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.“
Erschienen in Ausgabe 12/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 16 bis 17. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.