Kein Content ohne Kontext

Wir leben in einem publizistischen Umfeld, das sich in einem Jahrzehnt radikal gewandelt hat – und das mit der Wirklichkeit von vor hundert Jahren praktisch nichts mehr gemein hat. Seit es Social Media, neue Content-Plattformen wie das iPad und immer leistungsfähigere Breitband- und Mobilfunkdatennetze gibt, kann wirklich jedermann den Medienprofis Konkurrenz machen.

Bei Reuters haben wir diese Entwicklung schon lange öffentlich thematisiert. Wie Bob Dylan es so schön formuliert hat: „It doesn’t take a weatherman to know which way the wind blows.” Um den veränderten Rahmenbedingungen Rechnung zu tragen und diese auch zukünftig erfolgreich mitgestalten zu können, haben wir uns frühzeitig mit den aus unserer Sicht unverzichtbaren Weichenstellungen für die Zukunft befasst – Weichenstellungen, die in ähnlicher Form auch für unsere Abonnenten erforderlich sein dürften.

1. Differenzierte Nutzeransprache

Zuallererst müssen wir noch mehr Zeit darauf verwenden, die sich wandelnden Anforderungen unserer Nutzer zu verinnerlichen. Tatsächlich ist es so, dass viele Medien in ihrer Kundenansprache nicht immer hinreichend zwischen Gelegenheitslesern und Abonnenten differenziert haben. Auf dem Papier tragen ja beide zur Auflage bei.

Die „Financial Times“ ist ein gutes Beispiel. Dort hat man die Abonnentenbasis in vier Segmente eingeteilt, vom Intensiv- bis hin zum Gelegenheitsnutzer, und für jedes Segment Inhalte und Preise festgesetzt. Das Ergebnis: 2010 werden die Umsätze aus dem Geschäft mit Inhalten erstmals diejenigen aus dem Anzeigengeschäft übersteigen. Grundsätzlich kann uns die Herangehensweise von kundenzentrierten Konsumgütermarken wie Procter & Gamble oder Unilever als Anschauungsmaterial dienen.

2. Qualität vor Quantität.

Wir müssen eine Alleinstellung über die Qualität und nicht, wie immer noch oft üblich, über die Quantität des von uns bereitgestellten Content erreichen. Jahrelang konnte man eine von einer gewissen Arroganz geprägte, sehr einseitige Beziehung zwischen Nachrichtenagenturen und ihren Nutzern beobachten. Nachrichten wurden gesammelt, nach eigenem Gutdünken zu Paketen geschnürt und dem Kunden dann vor die Tür gelegt. Mittlerweile wird Content in Form eines nicht enden wollenden Stroms von Daten und Fakten geliefert, der immer mehr die Züge einer Informationsüberflutung annimmt.

Das bedeutet keinesfalls, dass wir nicht mehr in Content investieren sollten. Reuters investiert kontinuierlich in seine redaktionelle Kompetenz. Allein dieses Jahr haben wir über 200 zusätzliche Journalisten an Bord genommen, worauf wir stolz sind.

Wir müssen aber auch den Mut haben, uns kritische Fragen zu stellen: Was können wir anders und besser machen? Was sollten wir nicht mehr machen? Wie können wir unser hochkarätiges Nachrichtenangebot noch wertvoller und unverwechselbarer gestalten? Schließlich wollen wir für unsere Abonnenten unverzichtbar sein.

Die Antwort ist: Wir wollen Journalismus, der wieder stärker auf selbst recherchierte Geschichten setzt und weniger auf Pressemitteilungen und die Wiederholung von Geschichten anderer. Journalismus, der seine Ressourcen wieder stärker auf das konzentriert, was für seine Leser am stärksten zählt. Journalismus, der aufhört, Zeit, Geld und Talent für sich immer wiederholende Aufgaben zu verwenden, die keinen Mehrwert für den Leser bieten.

Content ist King – daran hat sich nach unserer Überzeugung nichts geändert. Aber der König braucht eine Königin, und die heißt Kontext.

Wir wollen mit Hilfe unserer Journalisten und neuer Technologien das Grundrauschen durchdringen und Content anbieten, der frisch, aufschlussreich, vertrauenswürdig, nutzbar und relevant ist. Letztlich aber macht erst der Kontext den Content rund.

3. Neue Plattformen

Das dritte Element ist die Schaffung von nutzerzentrierten Content-Plattformen. Wir müssen die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters konsequent ausschöpfen, um unser Angebot noch attraktiver zu machen und unseren Kunden größtmögliche operative Effizienz zu ermöglichen: Die Nachrichtenagentur der alten Schule ist tot. Das Spektrum der Erlebniswelten für den Informationsnutzer reicht schon jetzt vom gedruckten Medium über Workstations und Smartphones bis hin zum iPad – und das ist erst der Anfang!

Last but not least wollen wir den Wandel vom reinen Anbieter hin zum Anbieter eines Marktplatzes für Informationen vollziehen. Hier gilt es, den von uns produzierten Content mit dem anderer Anbieter auf einer übergreifenden Plattform zusammenzubringen. Einziger Malus: Indem wir als Bühne für die Inhalte und die Präsentation von Fremdanbietern fungieren, unterstützen wir indirekt deren Entwicklung.

Die hier vorgestellten Ideen repräsentieren das „Project Apollo“ – unsere „Road Map“ für die Nachrichtenagentur der Zukunft. Unser Aktionsplan speist sich aus dem Feedback von Herausgebern und Verlegern weltweit. Unser Ziel: Wir wollen unseren Kunden umfassende Wahlmöglichkeiten bei Tools, Content und Kontext an die Hand geben, um ihre operative Effizienz zu stärken und sie zu unterstützen, ihre Zielgruppen an sich zu binden. Davon dürften wir alle gemeinsam nachhaltig profitieren.

Wir müssen altbewährte Praktiken kritisch unter die Lupe nehmen und den Blick in die Zukunft richten. Nachhaltig erfolgreich werden wir nur dann sein, wenn wir die Wünsche und Anforderungen unserer Kunden ständig im Visier haben. Wenn wir diese Aufgabe im Schulterschluss angehen, davon bin ich überzeugt, können wir die Medienbranche neu erfinden und der Zukunft zuversichtlich entgegensehen.

Erschienen in Ausgabe 12/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 42 bis 42 Autor/en: Chris Ahearn. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.