Was auffällt, gefällt? Nicht immer, aber immer öfter gilt dies auch für journalistische Fotos. Die Abgrenzung zu Konkurrenzprodukten, das Bestreben aus der Masse der Fotokollegen herauszuragen, bringt Medien und Fotografen dazu, nach ausgefallener Optik zu streben. Zumindest sind Bemühungen zu erkennen, auch wenn es manchmal an Geld oder Mut fehlt. Jeder Redakteur möchte das besondere Bild veröffentlichen. Aber was ist das? Wie sieht die Optik der Zukunft aus?
Etliche Fotografen füllen derzeit ihre Präsentationsmappen mit Bildern, die merkwürdige Schärfenverschiebungen aufweisen. Oben ist ein Objekt scharf, während es unten in extremer Unschärfe verschwimmt. Dies wird mit einem sogenannten Shift- und Tilt-Objektiv erreicht, das normalerweise für Architektur eingesetzt wird. Die Ästhetik der Schärfenverlagerung lässt Straßenansichten wie Spielzeugstädte aussehen. Ein Hingucker. Beliebt und bereitwillig gedruckt sind auch Porträts oder People-Aufnahmen, die mit reduzierten Farben, nahe am Monochromen daherkommen. Der gegensätzliche Trend dazu arbeitet mit satten Farben, die oft dazu noch harte Kontraste aufweisen. Wirkt spannend. Ein alter Effekt aus der Schwarz-Weiß-Fotografie wird auch gern benutzt: das Abdunkeln der Bildränder, das die Mitte des Fotos hell hervortreten lässt. Was früher von mangelhaften Objektiven herrührte, wird heute bei der digitalen Entwicklung eines Fotos hervorgehoben. Das sind einige Tricks, die Fotos eine wirkungsvolle Anmutung und Fotografen ein individuelles Profil verleihen.
1. Der eigene Stil
Sind diese Methoden der Dramatisierung wirklich der Zukunftstrend? „Nein“, meint Rolf Nobel, Fotografieprofessor an der FH Hannover: „Das sind Modeerscheinungen, die einige Jahre favorisiert werden und dann wieder von der Bildfläche verschwinden.“ Er fordert seine Studenten auf, eine persönliche Handschrift zu entwickeln. „Nur wer eine eigene Bildsprache, einen ganz persönlichen Stil pflegt, wird sich in Zukunft auf dem hart umkämpften Markt behaupten können“, prophezeit Rolf Nobel. Katja Dittgen, freie Bildredakteurin für Objekte wie „Lufthansa Magazin“ und „Hör Zu“, bestätigt das: „Vor allem Fotografen, die in ihrer Mappe eine ganz eigene Fotosprache zeigen, bleiben in der Bildredaktion in Erinnerung.“
Bei der Gestaltung kommt es nicht nur auf die Wahl des Motivs, des Lichtes, des Standpunktes und des Moments an. Der journalistische Ansatz, die Art, wie man mit Bildern Geschichten erzählt, werden immer wichtiger. All diese Zutaten – individuell angewendet – machen die faszinierende Vielfältigkeit der Fotografie aus. Und genau diese Bandbreite unterschiedlicher Ausdrucksformen wird uns in den nächsten Jahren begleiten. Passend zu (hoffentlich) originellen Medien mit unverwechselbarer Optik.
2. Abschied vom Beweisfoto
Die Zeiten, in denen ein Bild den Inhalt des dazugehörigen Textes eins zu eins abbilden musste, sind vorbei. Ein Text, der ein Beweisfoto nötig hat, ist zu schwach. Heute – und in Zukunft – steht das Foto als eigenständiges, erzählerisches und illustrierendes Element. Selbstverständlich hat es den Inhalt zu stützen, liefert aber zusätzliche Informationen. Und noch ein weiteres Tabu ist gefallen: Ein Foto muss sich nicht auf den ersten Blick erklären. Es kann Rätselhaftes enthalten, das sich erst beim zweiten Hinsehen erschließt. Auch überraschende Ein- oder Durchblicke fesseln das Auge des Betrachters. Damit soll aber keinesfalls für Rätselbilder die Lanze gebrochen werden. Unverständliche Fotos gehören auch in Zukunft nicht ins journalistische Layout. Zumindest eine zum Thema passende Stimmung sollten sie transportieren. Emotionalität statt simpler Sachdarstellung – das ist ein fotografisches und redaktionelles Rezept, welches häufig wunderbar funktioniert. Menschliche Regungen, Lichtstimmungen und Farben lassen den Betrachter Geschichten sinnlich erleben. Denn schließlich ist Emotionalität die große Stärke der Fotografie.
3. Neue Dimensionen
Stimmungen, die bislang mit fotografischen Mitteln nicht umsetzbar waren, sind inzwischen abbildbar. Eine Welt tut sich auf, die Fotografen bislang mit Blitz- und Kunstlicht oder extrem langen Belichtungszeiten zu erhellen versuchten – die Welt, in der das Licht rar ist. Dunkle Räume und Nachtszenen sind heute mit dem vorhandenen Licht fotografierbar, dank immer besserer Fotosensoren. Weitere technische Innovationen werden der Fotografie noch weitere neue Dimensionen erschließen. „Was bisher nur relativ statisch mit artifiziellem Licht zu erfassen war, lässt sich neuerdings ganz lebendig in der Bewegung und in der Stimmung der bestehenden Lichtverhältnisse fotografieren“, erklärt Professor Rolf Nobel: „Dadurch ergeben sich ganz neue Gestaltungsgmöglichkeiten und Chancen, unaufdringlich sensible Situationen einzufangen.“
4. Der andere Blick
Wie viele Fotos hat man schon gesehen im Leben? Unzählige. Und wie viele davon sind inzwischen zu langweiligen Bilderklischees geworden? Eine Menge. Um immer noch, und immer wieder, die Aufmerksamkeit des Lesers zu erringen, sind neue, andere Sehweisen nötig. Es braucht Fotos, die mit einem ungewöhnlichen Blick eingefangen sind. Bei immer wieder gleichen gesellschaftlichen Ritualen ein schwieriges Unterfangen für den Fotografen. Dies gelingt aber öfter, als es sich in den Medien widerspiegelt.
Dabei gelangen häufig Nebenaspekte des Geschehens in den Fokus des Fotografen. Das Hauptereignis kennt der Leser bereits aus vergleichbaren Szenen. Diese Bilder sind in seinem visuellen Gedächtnis abgespeichert und bilden den Hintergrund zum Verständnis für eine neue Sichtweise. Jeder Erwachsene weiß, wie es auf einem Parteitag aussieht oder auf einer Pressekonferenz, obwohl er nie dabei war. Wenn er dann auf ein Bild stößt, wie die von Ralph Sondermann eingefangene Szene mit Jürgen Rüttgers, bleibt das Auge hängen.
5. Gestellt oder erlebt?
Aber wie oft werden denn sensible Situationen überhaupt noch eingefangen? Eher selten, was die Auftragsbücher freier Fotografen belegen. Denn um in heiklen Situationen als Fotojournalist arbeiten zu können, muss man Vertrauen aufbauen, einen Draht zu den Protagonisten finden. Doch das kostet Zeit – und Geld, was Redaktionen selten aufbringen wollen. Daher ist das gestellte Porträt zu dem Genre avanciert, das etliche Medien über weite Strecken beherrscht – nicht nur aus konzeptionellen Gründen, sondern oftmals der Sparpolitik geschuldet. Anstatt Szenen sich natürlich entwickeln zu lassen, müssen Motive und Menschen häufig vom Fotografen arrangiert werden. Ein Trend, der dem Fotojournalismus nicht gut tut und vielen Fotografen nicht recht schmecken mag.
Begleitet wird so eine Arbeitsweise immer öfter von einer kleinen Casting-Show der Magazinredaktion. Man sorgt dafür, dass nur gut aussehende Menschen ins redaktionelle Umfeld gelangen können. Knorrige Typen oder dicke Mamas sind nicht nur aus den Livestyle-Medien völlig verbannt. Zu hoffen bleibt, dass in diese saubere Kunstwelt einmal das wirkliche Leben Einzug hält. Ein Zukunftstrend?
„Ein Tag Deutschland“
Die Fotos dieses Artikels sind dem Buch „Ein Tag Deutschland“ entnommen, das den aktuellen Stand des Fotojournalismus repräsentiert.
Ein Gemeinschaftswerk von 432 Mitgliedern des Fotografenverbandes FREELENS – am 7. Mai 2010 aufgenommen.„Ein Tag Deutschland“, dpunkt.verlag, 640 Seiten, ISBN 978-3-89864-707-6, 49,90 Euro
Erschienen in Ausgabe 12/2010 in der Rubrik „Foto“ auf Seite 30 bis 35 Autor/en: Manfred Scharnberg. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.