Unser prominentes Foto-Opfer Nr. 14 (u. a. nach Anja Reschke, Thomas Leif, Stefan Niggemeier) ist Sascha Lobo. Er ist ein Gesamtkunstwerk aus Autor, Blogger und „Markenkommunikationsexperte“, wie er es nennt. Angefangen hat er als Werber, bis die sogenannte Dotcom-Blase zerplatzte. Seither erarbeitete er sich den Ruf als oberster Internet-Auskenner der Republik, betreibt mit den Kollegen der „Zentralen Intelligenz Agentur“ das Blog „Riesenmaschine“ und schrieb Bücher wie „Wir nennen es Arbeit“ (2006) oder, ganz frisch, seinen ersten Roman „Strohfeuer“.
Lobos Fotokommentar:
„Zwischen diesen Fotos liegen nicht nur Jahre, sondern Welten. Wenn die partiell esoterische Hypothese stimmt, dass sich die menschlichen Zellen alle sieben Jahre runderneuern, dann sind auf den beiden Fotos von 2004 (aber 2003 sah genauso aus) und 2009 (aber 2010 sieht genauso aus) zwei unterschiedliche Leute mit dem gleichen Namen zu sehen. Und was für Unterschiede. 2004 war die Nichtfrisur programmatisch. Charmant wirrer Haarfall, angenehm unaufdringliches Braunblond, unbekümmerte Nackenlänge à la Bohème – diese Frisur hat keinen Auftrag, wie es sich für den Kopfwuchs gehört. Wie anders im Jahr 2010, auf dem rasierten Schädel ein roter, haargewordener Schrei, nach Aufmerksamkeit, nach Liebe, nach Geld – den drei letzten Dingen, die man sich nicht selbst geben kann. Diese Frisur hat keinen Auftrag, sie IST ein Auftrag, und zwar ein konkret formulierbarer: „Stellen Sie das 21. Jahrhundert mit seiner erbärmlichen Ökonomie der Aufmerksamkeit (Georg Franck, München 1999) pantomimisch nur mithilfe eines Haarschnitts dar.“ Auf der einen Seite ein noch dünner, junger Mann, dessen freudig-enttäuscht-trotziger Gesichtsausdruck von der vor ihm liegenden Entscheidung zeugt: Kunst oder Politik? Für diesen Jungen gibt es – mit Recht – nur diese beiden Katego-rien. Möchte er schöpfen oder wirken? Aus diesem Unwissen zieht er seine Energie. Vor ihm liegt ein Diplomprojekt, bei dem er mit vier anderen eine Künstlergruppe vermarkten wird, die aus den gleichen fünf Personen besteht. Es handelt sich um die Art erkenntnisfördernden Quatsch, die Kunst mit Kommunikation im gelungenen Fall verbindet.
Auf der anderen Seite ein nicht mehr dünner, junger Mann, die Insignien der Jugend vor 30 Jahren (Iro, Schnauzer) proklamativ tragend. Die Noch-Immer-Nicht-Entscheidung zwischen Kunst und Politik hat ihn gelähmt. Der Tanz auf beiden Hochzeiten überfordert ihn selbst und das Publikum, verhindert jede Substanz in seinen Projekten und ist doch nur Ausdruck seiner mutlosen Entscheidungsunfähigkeit. Bücher schreiben, publizistische Breitband-Kanonaden, Unternehmen gründen – alles, aber nichts richtig. Und gerade deshalb steht ihm die Langeweile ins Gesicht getwittert, denn allein Entscheidungen ermöglichen Erfüllung. So unternimmt dieser frisurgewordene Mann alles gleichzeitig und geht deshalb unter in seinem eigenen Strom der selbstgefälligen Nichtigkeiten.“
Erschienen in Ausgabe 12/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 7 bis 7. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.