Herausragende Bedeutung

?Wie definiert sich das öffentliche Interesse, das Methoden wie die nun ins Gerede gekommene verdeckte Recherche rechtfertigen kann?

Manfred Protze: Hier reden wir ja nicht nur von öffentlichem Interesse, dem Journalisten immer verpflichtet sind, sondern vielmehr von einem „besonderen öffentlichen Interesse“ – wie das der Pressekodex in Richtlinie 4.1 festhält. Diese Formulierung zeigt, dass in solchen Fällen ein persönliches Interesse als rechtfertigender Grund nicht ausreicht, nicht simpler Klatsch und Tratsch, sondern die Belange der Gesellschaft insgesamt tangiert sein müssen. Im Übrigen gilt Ziffer 8 des Pressekodex, wonach das private Verhalten in der Presse im Einzelfall erörtert werden darf, wenn öffentliche Interessen berührt sind.

An die verdeckte Recherche legen wir also höhere Maßstäbe an als an die gewöhnliche Recherche, die unter dem Identifizierungsgebot steht. Da tut sich übrigens eine ganz wichtige Frage auf, die die Branche noch gar nicht zu Ende diskutiert hat, nämlich wie wir mit Recherchen in sozialen Netzwerken wie Facebook und Studi VZ umgehen…

… wo sich Kollegen immer wieder unter Pseudonymen einklinken?

Genau. Die einen definieren sie als geschlossene Benutzerkreise, in dem Journalisten ausschließlich recherchieren dürften, wenn sie sich identifizieren. Das Einschleichen unter falscher Identität, um dort unerkannt zu recherchieren, wäre im Grunde auch verdeckte Recherche. Andere sagen, soziale Netzwerke seien de facto öffentlich, hätten keine wirksame Zugangskontrolle. Deswegen könne man sich da im öffentlichen Raum bewegen und bei berechtigten Anliegen auch unter Tarnung unterwegs sein. Da hat auch der Presserat noch keine abschließende Position zu gefunden.

Haben Journalisten nicht das Problem, dass sie umstrittene Methoden erst rechtfertigen können, wenn ihre Recherche aufgeht – also klar ist, wie schwer ihr Ergebnis wiegt?

Jeder Journalist hat doch, bevor er mit seiner Recherche anfängt, eine Arbeitshypothese – und kann darauf aufbauend die jeweils adäquaten Mittel suchen. Geht er dabei zur verdeckten Recherche über, muss er sich sicher sein, dass die Frage, die er so klären will, von herausragender öffentlicher Bedeutung ist und dass er die notwendigen Informationen nicht auf anderem Wege beschaffen kann.

Wann wäre das Privatleben von Politikern von Bedeutung?

Träte ein Politiker für die Wiedereinführung des Paragraphen 175 ein, der schwule Handlungen unter Strafe stellte, frönte dabei aber selbst im Verborgenen der Homosexualität, könnten ihn entlarvende verdeckte Recherchen der Presse selbst in der Intimsphäre des Betroffenen gerechtfertigt sein. Forderte ein Politiker eine Amnestie für Steuersünder, stünde aber selbst im Verdacht, Reisen in die Schweiz für illegale Bargeldtransfers zu nutzen, gäbe es Raum für verdeckte Recherchen.

Was fällt unter „verdeckte Recherche“ – das Vorspiegeln falscher Tatsachen?

Das in jedem Fall, aber auch, wenn ich aus dem Geheimen heraus recherchiere. Dazu gehören für mich grundsätzlich auch Paparazzi, die mit ihrer langen Brennweite außerhalb des Sichtfeldes ihrer Zielobjekte diese beobachten und naturgemäß ihrer Identifizierungspflicht nicht nachkommen. Das ist im Übrigen ein klassisches Mittel der Spionage. Dazu gehören auch Observationen und die Installation von Bewegungsmeldern.

Ab wann sind diese Methoden gedeckt?

Wann immer die Recherche nicht einfach ins Blaue hinein passiert, sondern einem konkreten Anlass folgt. Journalisten brauchen dafür so etwas wie einen belastbaren Anfangsverdacht.

Wie einen anonymen Brief?

Zum Beispiel. Der müsste aber schon von sehr genauer Kenntnis zeugen.

Sind Liebschaften von Spitzenpolitikern von besonderem Interesse?

Das hängt immer vom Fall ab. Hat ein Politiker neben seiner Ehe eine Affäre, geht das niemanden etwas an – außer vielleicht seinen Ehepartner. Dabei gibt es aber eine ganze Reihe möglicher Ausnahmen.

… z.B. wenn er ein konservatives, christliches Moralverständnis propagiert?

Stellt ein Politiker diese Wertevorstellung in seinem Wahlkampf oder seiner alltäglichen politischen Arbeit ständig heraus, würde es rechtfertigen, einem Anfangsverdacht mit verdeckter Recherche nachzugehen, die auch die Privatsphäre im Blick hat. Aber wie gesagt nur, wenn der Verdacht einem starken persönlichen Profil entgegensteht, das von der betreffenden Person öffentlich thematisiert wird. Wer sein privates Leben selbst in die politische Auseinandersetzung einbringt oder zu anderen Zwecken öffentlich inszeniert, der muss sich auch gefallen lassen, dass die Öffentlichkeit die Glaubwürdigkeit der Selbstdarstellung mit einem Blick hinter die Kulissen gegebenenfalls mit Hilfe der Medien überprüft. Und anzunehmen, dass Journalisten hier stets mit offener Recherche weiterkommen, ist natürlich absurd.

Linktipp:

Weitere Aussagen von Manfred Protze, u.a. mit Tipps zur Zusammenarbeit mit freien Journalisten und Agenturen finden Sie unter www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 03/2010 in der Rubrik „Special“ auf Seite 23 bis 23 Autor/en: Interview: Daniel Bouhs. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.