Machtfragen

Haben Sie eigentlich einen Standpunkt? Und wenn ja, woher? Ein Standpunkt, behauptet mein Duden, sei eine „bestimmte Einstellung, mit der jmd. etw. sieht, beurteilt“. So gesehen dürfte jeder Inhaber etlicher Standpunkte sein. Ich habe einen ganzen Schrank voll davon. Gelegentlich wechsele ich sie.

Woher bekommen Sie Ihre? Welche tragen Sie im Frühjahr? Klappern Sie morgens notorische Standpunktvertreter ab, um sich frische zu besorgen? Haben Sie alte Lieblinge, die Sie gelegentlich entstauben und bewundern? Ich besah meinen Standpunkt. Und er grinste zurück.

Genug geblödelt. Ich habe ein Buch geschrieben. Über Medien. Den Zustand und Zukunft unserer Zunft. Das ist eine ernste Sache. Und ein Luxus: sich ein, zwei Jahre Zeit nehmen, um Mechanismen und Rituale, Dogmen, Attitüden und Besitzverhältnisse genauer zu begucken. Um Standpunkte zu suchen und in Sprache zu kleiden. Um herauszufinden, wie Meinung heute eigentlich hergestellt wird. Und welch Schattendasein Journalisten dabei führen. Oft sind sie, bestenfalls, nur mehr Störenfriede in einem ansonsten perfekt kontrollierten Kommunikationsprozess – direkt vom Produzenten zum Konsumenten, vom Herrscher zum Volk.

Markige Worte – aber wozu? Manches ist besprochen. „Hauptstadtjournalismus“ etwa klingt inzwischen fast wie ein Schimpfwort. Da gab es bereits 2005, bei der großen publizistischen Merkelei, Anflüge von Selbstkritik – hinterher, leider auch völlig folgenlos. 2009 kam es noch schlimmer. Da setzte das große, postdemokratische Gähnen ein: Nee, diese Politiker langweilen uns. Wir wollen lieber Basta und Gebrüll. Markige Worte, starke Führer! Oder doch wenigstens Helmut Schmidt, jawohl! Ein Alphajournalist vermarktete sich in den Talkrunden gar als Wahlboykotteur.

Auch der Wirtschaftsjournalismus hat sich nun kraftvoll desavouiert. Wobei dessen Großschreiber wenig Demut zeigen. Selten hören wir von Leitpredigern, die sich aus Scham ob ihrer ideologischen Kurzschlüsse in den Stift gestürzt, oder zumindest eine Kunstpause eingelegt hätten. Gewiss, es gab tolle Dokus und Analysen. Das Alltagsgeschäft aber kommt daher, als wäre nie was gewesen. Im Deutschlandfunk zum Beispiel fragt der Moderator weiter stupide nach Dax, Euro und Gold.

Wie also bewerkstelligen wir, dass hin und wieder „jmd. etw. sieht“? Oder, besser: anders sieht? Stil ist nicht das Thema. Ästhetisch sind unsere Medien ganz gut dabei. Es ist eine Machtfrage. Das Kernproblem: die Deutungshoheit einiger weniger Standpunktbesitzer. Es geht mir um echte Pluralität. Um den vollen Horizont. Um Courage. Um den Schutz derer ohne PR-Abteilung. Um eine funktionierende Öffentlichkeit, die mehr sein will als ein Event professioneller Agendasetter.

Gleichschaltung tritt ein, wenn wichtige Medien in der Beschreibung und Bewertung der Wirklichkeit austauschbar werden. Sofern sie sich überhaupt noch mit Realitäten befassen. Oft gibt sich unser Gewerbe längst als Nebenzweig des Schau-Geschäfts. Ganze Medienkonzerne bespaßen und bespielen Menschen ausschließlich, stimulieren und substituieren Gefühle. Es ist das bessere Geschäft. Und in seiner Wirkung wohl politischer als aller Politjournalismus.

Die gute Nachricht: Wir in Bundesdeutschland sind bisher auf keinen Populisten hereingefallen. Rundum aber zeigt sich, welche Verrohungen drohen. Österreichs Öffentlichkeit fiebert noch immer im Takt des toten Haider. In der Schweiz, Dänemark, Ungarn, Polen, Belgien und den Niederlanden müssen wir andere Spielarten des Populismus bestaunen. In Frankreich hat die Kumpanei industrieller Medieninhaber einen Sarkozy geboren. In Italien gehören dem Premier die Medien gleich selbst. Oder sind doch Teil seiner Show. Beim lupenreinen Putin kann Journalismus tödlich sein. Dagegen geht’s uns doch gold.

Die schlechte Nachricht: Wir brauchen offenbar weder Prügel noch Zensur, um in Gleichschritt zu verfallen. Reichen uns ein paar Rudelführer und ein bisschen Spardruck von oben, garniert mit dem Lamento vom Ende des „Geschäftsmodells“?

Die beste Nachricht: Wir werden gebraucht. Denn, auf die Gefahr hin, pathetisch zu klingen: Öffentlichkeit ist das Lebenselixier der Demokratie. Sonst gibt es am Ende nur einen Standpunkt. Und das ist bekanntlich ungesund.

Info:

Tom Schimmecks Buch „Am besten nichts Neues“ ist im Westend-Verlag erschienen.

ISBN 978-3-938060-50-6

304 Seiten, 17,95 Euro.

Erschienen in Ausgabe 03/2010 in der Rubrik „Standpunkt“ auf Seite 18 bis 19 Autor/en: Tom Schimmeck. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.