Offene Türen für Leser

Es ist Mittag in Ústí nad Labem, einer Stadt in Tschechien mit knapp 100.000 Einwohnern, 90 km nördlich von Prag. „Wollen Sie mit einem Journalisten sprechen?“, fragt die Kellnerin, während sie einen Cappuccino zubereitet. Die Theke, hinter der sie steht, wirkt, als wäre sie von McDonald’s kopiert worden. Viel Plastik, dahinter Leuchtstoffröhren, an der Decke aufgehängt eine grelle Tafel mit Preisen. Die aktuellen Nachrichten strömen aus dem Flat-TV an der Wand. Ab und zu öffnet sich die Türe. Lärm dringt von der Straße herein. Neben der Preisliste erscheinen nacheinander die Partyfotos vom vergangenen Wochenende auf Bildschirmen. Ein kleines, blondes Mädchen mit langen Zöpfen spielt mit einem Traktor in der Kinderecke, während ihre Mutter nebenbei am Computer sitzt und im Internet nach den neuesten Rezepten sucht. Ein junger Mann versucht, das Gerät zum Entwickeln von Fotos zu bedienen. An einem Tisch diskutiert eine Gruppe alter Damen angeregt über das Theaterstück von vergangener Nacht. Ein alter Mann geht zum Zeitungsständer und drückt der Kellnerin umgerechnet 45 Cent in die Hand. Plötzlich öffnet sich die Türe. Fünf junge Journalisten treten ein. Vier von ihnen gehen mit den letzten Resten ihres Mittagessens in den hinteren Bereich des Kaffeehauses. Einer setzt sich mit einem Notizzettel an den Tisch der alten Damen.

In diesem CafÉ werden nicht nur Zeitungen gelesen, sondern auch gemacht. Es ist eines von vier Newsroom-Cafés in Tschechien und somit Teil des neuen Projekts von Nase Adresa (Unsere Adresse), das am 1. Juni 2009 in die Testphase ging und seither zu den innovativsten Projekten in der Zeitungsbranche zählt.

Entwickler Roman Gallo, Direktor für Medienstrategien von PPF Media, und sein Team sind mit der bisherigen Entwicklung äußerst zufrieden. Derzeit werden die Newsroom-Cafés in zwei großen und zwei kleineren Städten mit unterschiedlichen soziodemografischen Daten in Böhmen und Mähren getestet. Mit einer verkauften Auflage von insgesamt 24.000 Exemplaren haben sich die ausschliesslich lokal ausgerichteten Zeitungen mit bereits 12 Prozent Marktanteil zu den stärksten der Regionen etabliert.

In einem Newsroom-Café arbeiten fünf bis sieben Redakteure und ein Chefredakteur. Die Cafés befinden sich immer am Hauptplatz oder in der größten Einkaufsstraße und stehen für ihre Gäste jeweils von 7 Uhr morgens bis meistens 7 Uhr abends offen – auch am Wochenende. Warum hat sich die Zeitung nicht bei McDonald’s eingenistet? „Wir haben einen anderen Rhythmus“, erklärt Gallo. „Wenn ein großes Fußballmatch zwischen Tschechien und der Slowakei stattfindet, haben wir länger geöffnet, damit sich unsere Leser das Spiel in unserem Café ansehen können. Keine andere Kette ist so flexibel.“

Auch keine andere Lokalzeitung entsteht auf dieselbe Weise wie die von Nase Adresa. Ein Drittel der am Montag erscheinenden Zeitung wird ausschließlich gemeinsam mit Lesern gestaltet. Sie kommen in das Newsroom-Café, trinken in entspannter Atmosphäre einen Kaffee und berichten von ihren Problemen, neuen Projekten oder einfach von Dingen, die ihnen aufgefallen sind. Ein Großteil der Geschichten entsteht durch Kooperationen mit Vereinen, Schulen und Institutionen.

„Wir haben unterschiedliche Kunden in unseren Kaffeehäusern. Solche, die nur einen Kaffee trinken oder Zeitung kaufen. Andere, die an unseren Veranstaltungen teilnehmen, und letztendlich diejenigen, die uns etwas zu sagen haben“, sagt Gallo. Communitybildung steht für Gallo dabei an erster Stelle. „Wir wollen die Leute dazu bringen, mit uns zu arbeiten und zu reagieren.“ Veranstaltungen wie Malwettbewerbe für Kinder, Filmabende, Gespräche mit Gemeindevertretern und Dartturniere tragen dazu bei.

Für die Journalisten entsteht dadurch eine völlig neue Rolle. Sie werden zusätzlich auch Communitymanager. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit erklären sie auch einfach nur Kindern, wie ein Zeitungsartikel entsteht, oder leiten eine Gesprächsrunde mit einer Polizistin zum Thema Taschendiebstahl in der Weihnachtszeit. „Wir wollen am nächsten beim Leser sein“, sagt Adam Carda, Journalist im Newsroom-Café in Ústí nad Labem, der begeistert über seinen Job bei Nase Adresa berichtet. „Wir gehen nicht nur auf die Straße und befragen Leute, sondern die Leser kommen auch zu uns. Das ist eine tolle Abwechslung zum üblichen Job als Journalist.“ Gallo berichtet aber auch, dass es sehr schwierig ist, Journalisten für diese neue Art von Aufgabe zu motivieren. Seiner Meinung nach ein Grund dafür, dass die meisten Journalisten von Nase Adresa unter 30 sind, diese sind offener für neue Konzepte.

Aber Gallo sieht die Aufgabe nicht nur in der Communitybildung. Er öffnet die aktuelle Ausgabe aus Ústí, die auf seinem Schreibtisch liegt, und erklärt weitere Elemente der Zeitung. Neben Community ist die Zeitung mit praktischen Informationen, Service und Investigativem gefüllt.

Gallo will Qualitätsjournalismus auf lokaler Ebene machen. Das sei möglich, da Nase Adresa durch seine Struktur im Gegensatz zu anderen lokalen Zeitungen nicht von lokaler Politik abhängig sei. Ernsthafte Konkurrenz sieht er nicht. Erstens weil die Zeitung auf nationale Inhalte gänzlich verzichtet und zweitens nicht in allen Regionen Mitbewerber hat.

Neben der Wochenzeitung gibt es für jede Stadt eine Website und weitere für die Umgebung. In Ústí nad Labem sind das derzeit fünf. Die Philosophie dabei lautet „Online first“. Täglich werden durchschnittlich fünf Artikel produziert, die sofort auf der Website veröffentlicht werden, wobei allerdings manche Interviews oder investigative Artikel zuerst gedruckt erscheinen.

Die Newsroom-Cafés sind nicht die einzige Innovation. Schauplatzwechsel nach Prag in den „Futuroom“. In der Zentrale von PPF Media ist es bereits 7 Uhr abends. Im Großraumbüro von Nase Adresa ist es ruhig geworden. Ein Großteil der 30 Mitarbeiter ist bereits nach Hause gegangen, nur mehr wenige aus dem Bereich Recherche sind noch da, auch zwei Reporter. „Futuroom“-Leiter und Direktor für Nachrichten und Multimedia-Training Matej Husek sitzt an seinem Laptop und überprüft die Funktion der neuesten Infografik. „Wir sind das Gehirn von Nase Adresa“, erklärt er.

Neben Infografiken und mobilen Applikationen werden auch Statistiken für die lokalen Redaktionen erstellt. Sie werden an andere Verlage verkauft und finanzieren damit 40 Prozent des Newsrooms. Mit den Aus- und Weiterbildungen von Journalisten und Firmen aus dem In- und Ausland werden weitere 40 Prozent verdient. Nebenbei werden Kinder und Jugendliche an das Produzieren für Medien herangeführt. Dabei geht es weniger ums Geldverdienen, vielmehr um Communitybildung. Die eigenen Journalisten kommen rund ein Mal pro Monat, um Workshops zu absolvieren. Gallo erklärt, weshalb ihm die Errichtung des „Futuroom‘s“ so wichtig war: „Erstens wollten wir mehr Know-how bekommen. Zweitens brauchten wir einen Ort, wo wir dieses Know-how in die Köpfe unserer Journalisten transferieren. Drittens wollten wir ein Tool, mit dem wir Geld in das Projekt bringen können, und viertens als Unterstützungstool für die Regionen.“

Wie organisiert PPF Media die Arbeit hinter dem Projekt? „Ich habe Stellvertreter für die vertikalen Bereiche der Unternehmensbereiche“, berichtet Gallo. Petr Sabata, einer der Topjournalisten im Land, ist zum Beispiel für das Projekt Nase Adresa Print und Online verantwortlich. Ein anderer leitet die Café-Kette. „Er weiß, wie man Kaffee kocht und Croissants bäckt, hat aber keine Ahnung von Medien“, sagt Gallo. Für die Redaktionen der Newsroom-Cafés ist jeweils ein Chefredakteur verantwortlich. Die Journalisten machen alle Themen. Ressorts gibt es keine.

Geld wird mehrfach verdient. Neben Erlösen aus Anzeigen, dem Verkauf von Zeitungen, Cola, Sandwichen, Kaffee und Kuchen und dem „Futuroom“ wird d
erzeit das Know-how in andere Länder wie Ägypten, Saudi-Arabien, die Ukraine und Russland verkauft. Gallo ist sich sicher, dass sein Konzept auch über die Grenzen von Tschechien hinaus funktioniert, wobei er sagt, dass es nicht Kaffee und Zeitung sein muss, sondern es auch vielleicht andere Kombinationsmöglichkeiten gibt, die funktionieren können.

Innerhalb des nächsten halben Jahres plant Gallo 150 weitere Newsroom-Cafés. Bis 2011 will er die gesamte Tschechische Republik abdecken. „Wir werden alle fünf Tage ein neues Café eröffnen“, erklärt Gallo mit einem Lächeln. Wie er das macht? Mit 700 Angestellten und mithilfe seiner Vertreter in den jeweiligen Bereichen. Details zu Kosten und Finanzierung sind Betriebsgeheimnis. Der Kaffeepreis ist bekannt: 1,50 Euro – normal in Tschechien.

„Nase Adresa“

* Projekt- und Zeitungstitel: „Nase Adresa“ = „Unsere Adresse“

* Gestartet am 1. Juni ‘09 als Pilotprojekt

* Bisher vier Newsroom-Cafés in Kroměříž, Olomouc, Teplice und Ústí nad Labem

* In jedem Café arbeiten fünf bis sieben Redakteure und ein Chefredakteur

* „Futuroom“: Zentralredaktion in Prag mit Service für Lokalredaktionen sowie Aus- und Weiterbildungen

* Bis Sommer 2010 soll es weitere 150 Newsroom-Cafés geben

* Bis 2011 soll Tschechien flächendeckend erschlossen werden

* Hinter dem Projekt steht die Firma PPF Media (www.ppf.cz)

* Website: www.naseadresa.cz

Erschienen in Ausgabe 03/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 66 bis 67 Autor/en: Verena Oberauer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.