Top und Flop des Monats

IN: Lust auf die Unbequemlichkeit

Routine ist einer der größten Feinde des Journalisten. Ist das jährliche Volksfest in Sichtweite oder ein Jubilar im Blatt vorzustellen, schleicht sich rasch Schema F in die Schreibe. Ist ja auch einfacher. Foto im bekannten Anschnitt dazu, fertig ist die Laube. Schließlich ist‘s der Leser auch gewohnt, oder? Trugschluss: Letztgenannter honoriert es, wenn wir mit Lust auf die Unbequemlichkeit einen neuen Blickwinkel wählen, Themen in der Redaktionskonferenz verteidigen, die nicht dem gängigen Terminkalender entspringen, sondern unserer eigenen Neugier. Eines muss man sich dabei freilich zurechtlegen: Ein gewisses Zeitfenster, das der Vorbereitung dient und in dem die Gehirnschmalzproduktion angeregt wird. Vielleicht haben die lieben Kollegen oder gar der Termingeber selber einen Punkt parat, der noch gar nicht ins Licht der schreibenden Zunft gerückt wurde? Das hilft nicht nur der Auflage, sondern auch uns Journalisten selber: Wer regelmäßig für Pfeffer in seiner Themenauswahl sorgt, findet immer wieder neu Geschmack am Journalismus. Variantenreiches Schreibfutter statt Schonkost.

OUT: Gaffer-Journalismus

Das Ereignis ist im Grunde austauschbar: Ob Amoklauf in Winnenden, XY oder Z, Naturkatastrophe oder Sportunfall: Scheinbar sind wir Journalisten (oder zumindest jene, die diese Artikel und Fotos produzieren und freigeben) immun gegen unsere eigenen erhobenen Zeigefinger. Denn: Werden einmal wieder die Grenzen der Bild- und Textauswahl überschritten, erneut Opfer- oder Angehörigenfotos veröffentlicht, die nur den Gaffer befriedigen, bricht die Diskussion los. Man darf nicht! Man sollte! Mehr Rücksicht walten lassen! Eines der Aushängeschilder der deutschen Online-Medienlandschaft zeigte vor kurzem, wie weit her es mit dem Bewusstsein gegen maßlose Sensationsartikel ist: nicht weit. Als der georgische Rodler Nodar Kumaritaschwili während einer Trainingsfahrt für Olympia tödlich verunglückt, genügt nicht die bloße Nachricht und ein Porträt- oder Aktionsfoto aus seiner Karriere. Nein, ein Foto von der Reanimation muss als eines der ersten auf die Startseite von „Spiegel Online“.

Was rechtfertigt es, den Todeskampf eines Menschen in Wort und Bild festzuhalten? Fotos, die die Sekunden vor dem Unfall dokumentieren, folgten tags darauf auch in anderen Medien. Wünschenswert gewesen wäre: weniger Sensation und ein Plus an Distanz.

Text: Nico Lindner, 33, arbeitet als Lokalredakteur für den „SonntagsReport“ in Leer, twittert als Nicsmix und ist Mitglied der „Jungen Journalisten“.

Erschienen in Ausgabe 03/2010 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 8 bis 9. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.