Das andere Bild

Die Idee ist für Regionalzeitungen ungewöhnlich: Ein Aufmacher-Foto auf dem Titel, dessen Botschaft sich nicht auf den ersten Blick erschließt, das mit einer ungewohnten Per-spektive überrascht und eine eigene Sprache spricht. Dazu ein Bildtext, der mit dem Motiv spielt und eine eigene Geschichte erzählt. Die „FAZ“ praktiziert das mit viel Aufwand seit 2007 (s.a. „medium magazin“ 9/2009, „Das Anti-Foto“). Dass diese Idee auch im Regionalen funktionieren kann, zeigt das Konzept der „Augsburger Allgemeinen“, die damit Ende 2009 begonnen hat. Ein Beispiel: Das Titelbild „Diese Scheibe ist ein Hit“ (siehe Kasten), dessen Rätsel im Bildtext so gelöst wird:

„Ein modernes Kunstwerk? Ein schwarzes Loch in fernen Regionen des Weltraums? Oder nur die dunkle Seite des Mondes? Wer rätselt, der gehört nicht zu den vielen Anhängern des Biathlon-Sports. Knapp zehn Millionen Deutsche haben im Fernsehen verfolgt, wie Magdalena Neuner bei den Olympischen Spielen ihr zweites Gold gewonnen hat. Das hat sie geschafft, da sie schnell auf ihren Langlaufskiern unterwegs ist und weil sie zwischendurch aus 50 Metern Entfernung auf eben solche Scheiben schießt. Wir haben sie hier in Originalgröße abgebildet. Beim Stehendschießen reicht es, wenn das Schwarze getroffen wird (11,5 cm Durchmesser), beim Liegendschießen muss es der innere Bereich (4,5 cm) sein. Unser Bild zeigt lauter Volltreffer. Heute Abend wird wieder geschossen: Im Staffelwettbewerb der Frauen. Warum Magdalena Neuner nicht dabei ist, schreibt Marcus Bürzle im Sport…“

Herr Günther, warum wählen Sie solche „um die Ecke gedachten“ Aufmacher-Fotos?

Markus Günther: Wir wollen inmitten der täglichen Dauer-Bilderflut einen eigenen Blick bieten statt Fotos von sogenannten Pseudo-Events (etwa Politiker, die sich die Hände schütteln) oder bereits bekannten aus den elektronischen Medien. Unser Ziel: einen Vorteil von Print zu nutzen und bei unseren Leserinnen und Lesern einen Moment des Innehaltens zu evozieren, sie mindestens zu überraschen und auf die Geschichten hinter dem Bild, im Blatt-Inneren neugierig zu machen.

Wer entscheidet über die Fotos?

An der Auswahl beteiligt sind in der Regel drei Personen: der Desker, der die Seite eins verantwortet, einer der Bildredakteure und unser Art Director. Diese sprechen sich unmittelbar nach der großen Konferenz (11 Uhr) ab, welche Themen überhaupt in Frage kommen, tauschen erste Ideen aus und bereiten bis zur Bildkonferenz (14.30 Uhr) zu den jeweiligen Komplexen mehrere Bildvorschläge vor. Zu dieser Konferenz am Newsdesk sind wiederum alle Redakteure eingeladen, und meistens wird dann unter der Moderation der Chefredaktion auch recht munter diskutiert, sodass die Entscheidung oft ganz von alleine fällt – fast demokratisch, könnte man sagen.

Und wer schreibt die Bildtexte?

Gerade bei dieser Art von Bild-Konzept spielt der dazugehörige Text natürlich eine zentrale Rolle. Die meisten Bilder funktionieren sogar nur im Zusammenspiel mit dem Text. Je nach Thema/Bild soll dieser mal mehr, mal weniger glossierend und ohne zu viel zu verraten auf die dazugehörige Geschichte hinführen, in anderen Fällen das Bild er-klären, auf jeden Fall einen ganz eigenen Plauderton halten und für sich stehen können. Das ist nicht jeden Redakteurs Sache, und so hat sich relativ schnell eine Art informeller Titelbild-Schreiber-Pool herausgebildet.

Welche Rolle spielt Regionales bei den Motiven?

Die „Augsburger Allgemeine“ versteht sich seit jeher als eine in der Region verwurzelte Zeitung, allerdings mit dem Anspruch, umfassend über das Geschehen auch außerhalb dieser Region zu informieren. Insofern haben überregionale Themen und Bild-Motive auf der Seite eins schon immer dominiert, daran hat sich auch nicht viel geändert. Wenn wir ein starkes Thema/Bildmotiv aus der Region haben, freuen wir uns natürlich – das steht aber immer in Konkurrenz zu den anderen Themen des Tages. Bloße Schmuckbilder gibt es bei uns nicht mehr.

Welche Schwierigkeiten birgt das Konzept?

Ganz allgemein: Wenn etwa im Lauf des Tages ein Thema z.B. auf den Online-Diensten immer größer zu werden scheint und dazu die ersten Bildstrecken laufen… Da muss man die Ruhe, Distanz bewahren – im laufenden Prozess nicht immer ganz einfach. Ein Beispiel war etwa der Fall Käßmann, als viele Zeitungen mit Archiv-Bildern aufgemacht hatten – und am nächsten Tag wieder Bilder von der Pressekonferenz zu ihrem Rücktritt brachten. Eine solche Doppelung haben wir vermieden, wie unser Konzept überhaupt vorsieht, nur in wirklich relevanten Fällen – wie etwa eben Käßmann-Rücktritt, Beben in Haiti etc. – das dokumentarische Bild zu bringen.

Gab es interne Hürden?

Organisatorisch haben wir lediglich die Bildkonferenz eingeführt, was für den planenden Redakteur wieder-um bedeutet, erst nach dieser seine Seite eins aufreißen zu können. Inhaltlich waren die Hürden höher: Automatismen, über Jahre hinweg eingeschliffene journalistische Reflexe kann man nicht von einem zum anderen Tag ausknipsen. Da gab es anfangs durchaus Diskussionsbedarf. Inzwischen strahlt dieser andere Angang aber auch auf den Umgang mit anderen Bildern aus, obgleich im Innenteil „normale“ journalistische Fotos weiter dominieren. Aber eben anders: Man sieht, dass sich die Redakteure über die Bilder Gedanken machen. Am auffälligsten ist das vielleicht, was den Bildschnitt anbelangt.

Ziehen Sie „Grenzen der Kreativität“?

Kreativität hat keine Grenzen! Aber erst wenn der Leser etwas wiedererkennt, wahrnehmungstechnisch andockt gewissermaßen, erst dann kann man ihn auch verblüffen.

Wie reagieren die Leser?

Überwiegend positiv, es gab und gibt Leserbriefe, und in unserem Online-Forum wurde von Usern sogar eine eigene Diskussion zu unseren Bildern eröffnet. Dass wir auf dem richtigen Weg sind, zeigt aber vor allem die Erfahrung der Straße: Es gibt kaum einen Redakteur, der noch nicht im Bekanntenkreis, beim Bäcker, wo auch immer, auf ein Titelbild angesprochen worden wäre – im Positiven wie im Negativen. Es scheint, dass die Diskussionen, die wir täglich in unserer Konferenz um das Bild führen, auch draußen weitergehen: Es wird darüber geredet. Was will man mehr als Zeitung?

Interview: Annette MIlz

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 66 bis 66. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.