Das Gespür der Marktfrauen

Der Leser ist zu einem rätselhaften Wesen geworden, vor allem der Zeitungsleser. Was will er, was hat er vor? Und schlimmer noch: Wo ist er geblieben? Menschen können doch nicht einfach verschwinden, auch Zeitungsleser nicht. Machen wir uns auf die Suche: Nirgendwo in Deutschland buhlen die Verlage so radikal um ihre Kunden wie in München, der heimlichen Hauptstadt für Gratiszeitungen. Die Boulevard-Blätter „tz“, „Abendzeitung“ und „Bild“ gibt es an jeder Straßenecke. Für 60 Cent oder gratis, je nach Belieben. Man kann auch einfach zehn Cent in die Kästen werfen, um wenigstens den Schein zu wahren. Was jahrelang als schleichender Niedergang galt, passt heute zur Internet-Struktur, in der Inhalte wie Ramsch angeboten werden. Die finanzielle Problematik ist klar: Im Internet kommt die Nachricht mit Licht und Strom, für Zeitungen wird tonnenweise teures Papier verbraucht. Und da die Anzeigen ebenfalls wegbrechen, herrscht in vielen Verlagen nur noch eine Kreativität: Wie und wo kann ich sparen. Hier ein bisschen am Umfang, da an Redakteuren und Honoraren. Heilen Sie mal einen kranken Mann ohne Medizin.

Gibt es einen Ausweg?

Keiner sollte sich mit dem Satz herausreden, Zeitungen wird es immer geben. Dieser bräsige Spruch erstickt alles. Natürlich wird es immer irgendwelche Zeitungen geben. Die Frage lautet nur: Wie behaupten sich die Zeitungen? Erscheinen sie nur noch an drei Tagen in der Woche? Welche Bedeutung und wirtschaftliche Kraft werden sie künftig haben, um in der immer bunteren Medienwelt eine wichtige Rolle zu spielen? Zeitungen dürfen nicht unwichtig werden. Da setzen sie sich einer Konkurrenz aus, der sie nicht gewachsen sind. Die elektronische Unterhaltungsindustrie ist greller, bunter, bewegter.

Vor allem Boulevardzeitungen leben vom Spiel der Emotionen, aber es dürfen nicht die Emotionen eines lächerlichen Liebhabers werden. Dann wird der Ton schräg, der Leser spürt’s und verabschiedet sich. Kein Mensch empfindet Mitleid mit einer verlassenen Schauspielerin. Und wenn sich Jugendliche in einer U-Bahn rangeln, ist das noch kein Grund zur Empörung über neue Jugendgewalt.

So ganz neu ist das nicht.

In den 60er-Jahren wollte die Redaktion der „Abendzeitung“ mit der Transplantation eines Schweineherzens groß auf den Titel. Der Chefredakteur riet ab: „Wir verkaufen vielleicht ein paar Exemplare mehr, schaden aber unserem Image. Es reicht, wenn die Geschichte im Inneren des Blattes steht.“ Der Mann hieß Werner Friedmann, ein geniale Blattmacher, der nach dem Krieg das Konzept für die „Süddeutsche“ und die „Abendzeitung“ entwickelte. Ein Konzept, das beide Blätter über einige magere Chefredakteure hinweghalf. Werner Friedmann damals: „Im fertigen Blatt muss alles im rechten Verhältnis gut gemischt sein. Wichtig, dass die Mischung alle Elemente enthält, die sich der Leser zu seiner Information und Unterhaltung wünscht.“

Das klingt etwas simpel, aber es war das Fundament für eine beispiellose Erfolgsstory auf dem Boulevardmarkt – ein Erfolg ohne Blut und primitive nationale Töne. München lebte mit der „Abendzeitung“, mit ihren witzigen Theaterkritiken, mit Michael Graeter als Klatschkolumnisten, mit Sigi Sommer als „Spaziergänger“ – und einem politischen Teil, an dem die Bonner Republik nicht vorbeikam. Die Zeile „Die FDP ist umgefallen“ half mit, die verknöcherte Bonner Koalition aufzulösen. Die süße Last dieser herrlichen Vergangenheit lastet heute noch auf der „Abendzeitung“, gilt für viele Münchner immer noch als Maßstab. Diesen Anspruch kann die Redaktion nicht mehr erfüllen. Stabiler wirkt da die „tz“, die vor allem unter dem Verleger Dirk Ippen nicht so gewaltigen Schwankungen ausgesetzt war. Und sein Blatt bedient eher die Leser auf dem Land und im „Speckgürtel“ um München. Da verlieren alle weniger. Eine Klientel hat sich schon von den Zeitungen verabschiedet. Die Verkäuferinnen auf dem Münchner Viktualienmarkt wickeln Obst und Fisch kaum noch in Zeitungen ein, die Plastiktüte hat gewonnen. Marktfrauen hatten immer schon ein Gespür für Trends. Schade.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Standpunkt“ auf Seite 32 bis 33. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.