Der Mann fürs Prekäre

Es ist einfach, Ulrich Meyer mit Häme zu begegnen. Wer das Privatfernsehen seit seinen Anfängen kennt, erinnert sich an seine Krawall-Talkshow „Einspruch“, alle anderen kennen den 54-Jährigen von „Akte“. Die Sendung ist nichts für Intellektuelle, man mag ihre Themen alarmistisch bis irrelevant nennen, aber vom Sat.1-Publikum ist das Primetime-Format gewollt. Es ist nicht lange her, da bekam Meyer bei einer Veranstaltung zu hören: Mit „Einspruch“ habe er ja mal das Fernsehen neu erfunden; jetzt moderiere er seit 15 Jahren „Akte“, das sei doch irgendwie „old school“.

Gern wird Meyer auf das reduziert, was den geringsten Teil seiner Arbeit ausmacht; das, wofür „ich eine dicke Maske und Mascara auf die Wimpern verpasst bekomme“, sagt Meyer. Wer den Produzenten nur als „Akte“-Moderator kennt, mag sich fragen, wieso die Karriere des einstigen Shootingstars des Privatfernsehens ins Stocken geraten zu sein scheint. 1995 war es, da widmete ihm das „medium magazin“ eine Titelgeschichte als „Hoffnungsträger der Nation“: Er war damals designierter Anchorman der Sat.1-Hauptnachrichtensendung „18:30“. 1998 gab er diese Aufgabe an Astrid Frohloff ab. Seither erweckt seine Vita den vordergründigen Eindruck der Stagnation. Mit „Akte“ produziert er eine Sendung, die jenseits der offensichtlich treuen Zielgruppe nur dann ins mediale Bewusstsein rückt, wenn sie mal wieder Geburtstag hat. „Jenseits von Jubiläen kämpfen wir gegen das Vergessen an“, räumt Meyer ein.

Helfer in Not.

25.000 Zuschriften habe „Akte“ im vergangenen Jahr erhalten, sagt Meyer, allesamt von Zuschauern mit der Bitte, bei einem Problem zu helfen. Längst lautet der Untertitel der Sendung nicht mehr „Reporter decken auf“, sondern „Reporter kämpfen für Sie!“. Der Grund ist ein finanzieller. Eine Redaktion, die selbst auf Themensuche geht, ist teurer als eine, die darauf vertraut, dass Zuschauer Vorschläge machen und die Unterlagen gleich mitliefern.

Ist Meyer noch immer „das gute Gewissen der Nation“, wie „medium magazin“ 1995 schrieb? Er selbst favorisiert den Begriff Ombudsmann oder spricht vom weißen Ritter in der Not. „In einem zunehmend komplexer gewordenen Umfeld fühlen sich immer mehr Menschen in ihrem Alltag überfordert“, sagt er und spricht offen vom Prekariat: von Menschen, die sich verkriechen, von einem Problem übermannt werden, es nicht zu bewältigen wissen und keine Idee haben, an wen sie sich wenden sollen. Für sie ist „Akte“ gemacht. Das dazu gehörende Online-Portal hat sich zum Ratgeber-Forum für diejenigen entwickelt, deren Fälle es nicht in die Sendung schaffen.

Ferdinand Simoneit, der kürzlich gestorbene Gründer der Holtzbrinck-Schule, sagte, jeder Journalist benötige ein Fachgebiet. Ohne Thema sei ein Journalist der ärmste Mensch unter der Sonne. Meyer hat sein Thema gefunden. Es befriedigt ihn, wenn „Akte“ etwas bewirken konnte. Er sagt auch, „wer sich im Alltag überfordert fühlt und bei Problemen keine Hilfe bekommt, der ist bald auch von diesem Staat enttäuscht, neigt irgendwann zu extremen politischen Positionen“.

1992 kam Meyer zu Sat.1. Schon länger hatte er dem Sender die Professionalität geneidet, während RTL noch immer Garagen-Atmosphäre ausstrahlte. Als Meyer RTL verließ, sah er sich als Verräter. Er wollte daher nicht auch noch Teil der Sat.1-Strukturen werden, also machte er sich auf Rat des damaligen Chefredakteurs Michael Rutz (heute „Rheinischer Merkur“) in Berlin mit Meta Productions selbstständig. Meyer sagt, hier arbeite er in der „magengeschwürfreien Zone“. Er meint damit die aus seiner Sicht unnützen und zeitraubenden Flurgespräche, die nicht nur bei Sat.1 über die Führungs- und Gesellschafterpolitik des eigenen Unternehmens geführt werden. Andererseits hilft derselbe Flurfunk zu erfahren, welche Art von Formaten der Sender gerade braucht. Diese Aufgabe übernimmt für Meyer Endemol. Den Holländern gehört die Produktionsfirma mittlerweile zu 90 Prozent.

Standbein Kriminalität.

Über die Jahre hat sich das Unternehmen eine Kompetenz für Verbraucherthemen entwickelt, derer sich neben Sat.1, dem Meta Productions 70 Prozent der Aufträge verdankt, auch andere bedienen, etwa der MDR („Escher hilft“). „Unser zweites Standbein ist die Kriminalität“, sagt Meyer. „Ermittlungsakte“ heißt das jüngste Format. Fast drei Jahre schlummerte Meyers Konzept in Sat.1-Schubladen, bevor es von Katja Hofem-Best wieder entdeckt wurde. Die halbstündige Kriminal-Doku „Ermittlungsakte“ ist am Sonntagabend die programmliche Brücke zwischen der US-Serie „The Mentalist“ und dem Wissenschaftsformat „Planetopia“. Der Premiere am 25. April folgen weitere fünf Ausgaben.

Was kommt als nächstes? Meyer denkt über ein multimediales Format nach, das im Radio und Internet zum Mitmachen aufruft und im Fernsehen umgesetzt werden könnte. Und er sieht Bedarf an einem extrem entschleunigten Seniorenprogramm, das er Alters- und Pflegeheimen als IP-Fernsehen anbieten will. Es soll alten Menschen helfen, Anregungen zu finden und den Alltag zu strukturieren.

Seine „Akte“-Moderationen sind eine Geschmacksfrage, im persönlichen Gespräch wirkt Meyer unprätentiös, eloquent und verbindlich. Man fragt sich, wieso Sat.1 einen teuren Kerner eingekauft hat, der beim Publikum wenig Anklang findet. Meyer wäre den Zuschauern vertraut. Ist er ein weiteres Eigengewächs, das Sat.1 nicht fördert? (Siehe dazu S. 14.) „Mit Kerners Verpflichtung konnte Sat.1 Schlagzeilen machen, die es mit mir nicht gegeben hätte“, sagt Meyer. Auf manche Schlagzeile über mäßige Kerner-Quoten hätte Sat.1 jedoch sicher gerne verzichtet.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 46 bis 47. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.