Haltung Bitte!

Der „Freitag“ nennt sich „Das Meinungsmedium“. Herr Augstein, welchen Claim würden Sie denn der „Zeit“ geben?

Jakob Augstein: Die „Zeit“ ist ein Medium der bürgerlichen Selbstvergewisserung …

Giovanni di Lorenzo: …was soll man denn darunter verstehen?

Augstein: Ich stelle mir die Leserschaft der „Zeit“ als urbanes, mittleres bis gehobenes Bürgertum vor, das an Sicherheit interessiert ist. Diese Menschen wollen die Verhältnisse, in denen sie leben, im Wesentlichen so erhalten wie sie sind.

di Lorenzo: Ich höre diese Beschreibung mit Staunen. Das Gegenmodell hieße ja: Ein Blatt, um die Verhältnisse zu überwinden. Man tut aber jedem kritischen Leser Unrecht, wenn man ihm unterstellte, er sei nicht auch an der Überwindung von Missständen interessiert. Dann könnte er das Lesen auch einstellen, wenn die „Zeit“ nur Vergewisserungsmedium im Augsteinschen Sinne wäre.

Augstein: Es geht nicht um das Überwinden der Verhältnisse. Sondern um das Gestalten. Ich glaube in der Tat, dass es der Job von Journalisten ist, die Wirklichkeit nicht als notwendig zu betrachten, sondern als veränderbar. Immer und überall.

Herr di Lorenzo, welchen Claim würden Sie Ihrem Blatt geben?

di Lorenzo: Unsere Redakteure würden sich sicher in dem wiedererkennen, was Jakob Augstein für sich adaptiert hat. Die „Zeit“ ist ganz starkes Meinungsmedium, aber in einem unideologischen Sinne: Sie will dem Leser Mittel an die Hand geben, mit denen er sich eine Meinung bilden kann.

Neuerdings setzt auch die „Zeit“ auf Leserbeteiligung, die beim „Freitag“ ja zum Konzept gehört. Was soll die Seite „Zeit der Leser“ sein – Forum oder Spielwiese?

di Lorenzo: Ein Forum gab es als Leserbriefseite in der „Zeit“ ja immer. Mir ist es aber sehr wichtig, dass wir unsere Leser besser kennen lernen. Wir veranstalten zum Beispiel seit Jahresbeginn regelmäßige Treffen zwischen Ressorts und Lesergruppen. Die Kollegen hatten vorher zum Teil Bedenken, waren hinterher aber ganz beglückt – weil sie gemerkt haben, wie viel Wachheit, wie viel Anregung von den Lesern kommt. Deshalb habe ich mir auch viel versprochen von dem Aufruf für die Seite „Zeit für Leser“.

Diese Seite wirkt wie aus einem Poesiealbum.

di Lorenzo: Warum? Wegen der Farbe?

… auch, aber vor allem wegen der Inhalte. Ist die Assoziation „Poesiealbum“ ein Kompliment oder eine Beleidigung?

di Lorenzo: Absolut ein Kompliment! Es sind ja auch Haikus drauf.

Augstein: Ich finde, es sieht aus wie ein Reservat.

di Lorenzo: In gewisser Weise ist es das auch. Doch damit haben wir offenbar einen Nerv getroffen. Nach zwei Aufrufen hatten wir bereits so viele Rückmeldungen, dass wir alle 82 Seiten damit hätten füllen können.

Augstein: Leserbeteiligung kann ein Schatz sein, den es zu heben gilt. Wir haben beim „Freitag“ die Einbindung der Leser zum Kern unserer Identität gemacht. Wir nutzen damit den großen Vorteil des Netzes, die Möglichkeit zur Kommunikation mit dem Leser. Und wir zeigen dadurch, dass das Netz die perfekte Erweiterung der Wochenzeitung ist – so wie es der erbitterte Feind der Tageszeitung ist. Ich finde ehrlich gesagt, die „Zeit“ könnte die Leute noch konsequenter mitwirken lassen.

di Lorenzo: Dahin bewegen wir uns auch. Ich misstraue aber Augsteins Content-Formel: Hinter seinem Konzept steckt oft nichts anderes als die nackte Not. Wenn Zeitungen sich kaum noch selber tragen können, dann holen sie sich möglichst viele Inhalte der Leser ins Blatt. Das ist okay, solange nicht mit der professionellen Qualität Schwindel getrieben wird.

Ich finde es in Ordnung, dass es Bürger-Reporter gibt – bis zu einem gewissen Punkt. Leser wollen in Zeitungen in erster Linie keinen Bürgerjournalismus – so wie ich auch keine Bürger-Ärzte, Bürger-Anwälte oder Bürgerwehren will.

Augstein: Die Journalisten sollen ja nicht ersetzt werden – sondern ergänzt. Der alte Gegensatz zwischen den sogenannten Profis und den Bloggern ist doch überholt. Wir integrieren im „Freitag“ seit einem Jahr Lesertexte im ganzen Blatt, allerdings deutlich gekennzeichnet, und ich bin damit sehr zufrieden. Im Netz ist es sogar noch einfacher, die Leser zu Wort kommen zu lassen, weil das Netz offener und experimentiert freudiger ist und man mit einer anderen Leseerwartung an die Texte herantritt. Ich glaube, wir werden uns bald alle daran gewöhnen, dass Lesertexte alltäglicher Bestandteil von vielen Zeitungen sein werden und nicht nur irgendwo hinten im Blatt versteckt werden.

di Lorenzo: Das kann ein Zukunftsmodell sein. Allerdings ist die letzte Seite einer unserer prominentesten Plätze – begehrt bei Redakteuren wie Anzeigenkunden.

Augstein: … aber die Hervorhebung durch Altrosa ist so ein bisschen…

di Lorenzo: … eine Geschmacksfrage, keine Ideologie. Uns hat die Farbe einfach gefallen.

Augstein: … unernsthaft.

Dominik Wichmann, Chef des „SZ“-Magazin, meinte zum Start der neuen „Zeit“-Ressorts: Die Tatsache, dass schon das als Sensation gewertet werde, zeige die Innovations-Schwerfälligkeit in der Branche. Ist das so?

di Lorenzo: Unsere drei neuen Ressorts sind eine Antwort auf etwas, das ich tatsächlich als Stagnation empfinde. Die Gesellschaft hat sich rasant verändert – von den Lesegewohnheiten ganz zu schweigen. Dafür lassen wir uns generell zu wenig einfallen.

Empfinden Sie Blogs und Social Media als Fluch oder Segen für den Journalismus?

di Lorenzo: Sowohl als auch: Auf dem Höhepunkt des Spesenskandals in Großbritannien 2009 erhielt der „Guardian“ 400.000 Dokumente zur Auswertung – und bat die Leser um Hilfe. In kürzester Zeit wurden so Dinge entschlüsselt, an denen Journalisten Monate gearbeitet hätten. Hier haben Internet und Blogger beispielhaft gezeigt, wie gut und demokratisch neue Medien funktionieren können. Keinerlei Fortschritt ist dagegen der Trieb, Gerüchte zu streuen, wenn zum Beispiel ein Blogger behauptet, dass Gerhard Schröder bei Margot Käßmanns Alkoholfahrt mit im Auto saß.

Augstein: Natürlich sind Blogs grundsätzlich eine Bereicherung für den Journalismus. Aber es kommt immer auf die Qualität an. Das ist der Maßstab. Heribert Prantl hat ja bei einer Tagung des „Netzwerk Recherche“ ganz richtig gesagt: „Es gibt guten und schlechten Journalismus, in allen Medien.“

Wie nutzen Sie selbst das Internet?

di Lorenzo: Täglich, stündlich, wie wir es fast alle tun. Allerdings gehört zu meinem persönlichen Anti-Burnout-Programm auch, dass ich außerhalb dieses Büros, in dem ich ohnehin die meiste Zeit verbringe, keinen Internetzugang nutze.

Augstein: Das wäre für mich nicht vorstellbar; ich muss möglichst immer wissen, was in unserer Community los ist.

Viele Regionalzeitungen setzen verstärkt auf crossmediale Elemente und haben ihre Blätter modernisiert. Warum sehen Sie trotzdem deren Entwicklung kritisch?

di Lorenzo: Ich will mich nicht über die Regionalzeitungen erheben, ich habe lange genug selbst eine geleitet, mit großer Hingabe. Die Zeitungen müssen sich wegen zweier sehr realer Probleme – der Strukturkrise und der Anzeigenkrise – einem enormen Sparprogramm unterwerfen. Es wird abgebaut – auch ein Stück Qualität und eigene Identität. Viele Zeitungen sind sich heute zum Verwechseln ähnlich. Verwechselbare Medien brauche ich aber nicht.

Augstein: Hinzu kommt: Die Leute sehen ihr unmittelbares Lebensumfeld nicht mehr als direkten Bezugsrahmen. Regionalzeitungen werden weniger wichtig – was ich bedaure. Das steht aber im Kontext eines allgemeinen medialen Phänomens der Zentrierung. Kanten werden abgeschliffen, schwierige Themen an den Rand gedrängt. Diese Angleichung beobachte ich inzwischen auch bei den großen Medien.

di Lorenzo: (lebhaft) Die angeblich nicht
mehr aggressiven Medien – das ist Jakob Augsteins Lieblingsthese, der ich entschieden widerspreche. Diese „Angleichung“, wie er sie versteht, ist ein Maßnehmen an der Realität. Wir haben es nun einmal generell mit Problemen zu tun, die unendlich schwer zu fassen und zu bemeinen sind.

Ich verstehe die Sehnsucht nach klaren Verhältnissen und pointierten Aussagen, aber sie ist im Kern unpolitisch. Denn diejenigen, die diese Sehnsucht angeblich befriedigen können, haben oft nur simple, einfältige Antworten.

Augstein: Unsere Aufgabe besteht doch darin, den Lesern die Politik zu erklären und die Politik zu kritisieren. Das heißt, Dinge klar zu machen, sie freizulegen, ins helle Licht zu rücken, für Kontraste zu sorgen. Unsere Aufgabe besteht nicht darin, die Probleme der Politik zu lösen. Es ist gefährlich, wenn Journalisten zu viel Verständnis für Politiker entwickeln. Wir sind nicht die Bundesregierung.

di Lorenzo: Davon rede ich auch gar nicht. Das wäre ja noch schöner, wenn wir das sein wollten. Haltung kann auch ein Ersatz sein für eine ideologische, para-religiöse Einstellung, die ich im Journalismus ganz abscheulich finde. Deshalb war mir dieser Begriff lange suspekt. Wenn wir von Haltung im besten Sinne des Wortes reden, dann ist es mir wichtiger, ein Stück Ratlosigkeit abzubilden als vermeintlich sichere Antworten, die keiner hat.

Herr Augstein, Sie haben mal gesagt: „Journalismus heißt zweifeln, heißt nicht wissen.“ Wie passt diese Haltung zu einem pointierten „Meinungsmedium“?

Augstein: Als ich den „Freitag“ übernommen habe, fand ich eine Zeitung vor, in der es für meinen Geschmack zu viel Gewissheit gab. Ideologie und Journalismus gehen aber nicht zusammen. Dennoch gibt es keinen guten Journalismus ohne Haltung. Sie brauchen einen inneren Kompass und müssen Ihrem Leser deutlich machen, wo Sie stehen und warum. Damit geben Sie ihm die Möglichkeit zu sagen: Ich teile diesen Standpunkt oder nicht. Das bedeutet nicht, dass man sich als Leitartikler immer als Herr der Lage beweisen muss. Manchmal muss ein Journalist auch seine Ratlosigkeit zu Protokoll geben dürfen. Mich ärgern Journalisten, die alles begründen können und mich am Ende ihres Leitartikels so ratlos zurücklassen wie vorher – über den Sachverhalt wie über die Haltung des Autors.

di Lorenzo: Dieser Typus von Leitartikeln war früher weit mehr verbreitet. Ein Standard-Leitartikel in der „Süddeutschen“, die wir beide kennen und lieben, enthielt in den Siebzigern „einerseits“ und „andererseits“ und im letzten Absatz ein „sollte“. Die sind heute sehr viel temperamentvoller. Mich stört aber die hohe Berechenbarkeit gewisser Meinungen – darunter leidet auch der „Freitag“, bei dem ich schon beim Anlesen weiß, was zum Schluss herauskommt.

Noch mehr stören mich Journalisten, die in Wellen immer mit den Wölfen heulen. Wir hatten noch nie so freie und vielfältige Medien – und gleichzeitig diesen Konformismus. Eine Erklärung dürfte sein, dass viele Sachverhalte so schwer zu durchschauen sind, dass sich manche Kollegen bei der eigenen Meinungsbildung gern auf das verlassen, was einige wenige vorgeben.

Ist die „Zeit“ immun gegen Konformismus und Wolfsgeheul?

di Lorenzo: Nein. Aber wir bilden relativ viele Gegensätze ab, auch in der eigenen Redaktion. Ein Beispiel: Der Schlagabtausch zwischen Bernd Ulrich und Theo Sommer kürzlich, zur „Zeit“-Berichterstattung über die Ära Kohl – das war atemberaubend, so etwas finden Sie in anderen Blättern nicht. Solche Transparenz finde ich wichtig.

Ich erwarte von Journalisten eine Grund-Redlichkeit. Wir sollten nicht ständig so tun, als ob wir alles wüssten. Das ist gar nicht möglich. Die Haltung, nach der Jakob Augstein sich so sehnt, ist ein Relikt aus einer Zeit, als die Ost-West-Trennung quer durch alle Redaktionen ging.

Augstein: Das ist mir zu einfach. Ich leide nicht an einem Mangel an Informationen, sondern an einem Erklärungs-, Identitäts- und Orientierungsdefizit. Ich möchte gern wissen, warum etwas geschieht, wo mein Platz darin ist und wohin ich mich wenden soll. Ich hätte gern einen Partner bei diesen Fragen. So ein Partner können Zeitungen aber nur dann sein, wenn sie eine erkennbare Haltung haben. Darum lese ich gerne die „FAZ“, weil dort charakteristische und erkennbare Köpfe sehr gut informiert und mit einem eigenen Standpunkt ihre Sicht der Dinge darlegen. Meistens widerspricht das meiner Weltsicht vollständig. Umso besser! Denn so kann ich meinen eigenen Standort klären. Bei der „Zeit“ vermisse ich manchmal diese Klarheit.

di Lorenzo: Ich bin ja auch treuer „FAZ“-Leser. Aber auch dort – Jakob Augstein wird das beklagen – hat eine gewisse Säkularisierung eingesetzt. Die sind ja sehr viel liberaler als früher, insbesondere bei der „FAS“ – übrigens ein ernst zu nehmender Konkurrent für uns Wochenzeitungsmacher. Journalistische Urgesteine hegen und pflegen wir mindestens genauso wie die „FAZ“. Ich glaube nur nicht, dass man ausschließlich mit dieser Klangfarbe ein Blatt machen kann.

Was uns zudem von anderen Medien unterscheidet: Wir behalten eine gewisse Grund-Neugier. Die neue Regierung war kaum eine Woche vereidigt, da kritisierten viele Kollegen schon einen „Fehlstart“. Das geht mir zu schnell.

Also „Slow Journalism“ als Gegenentwurf zu einem Schnappatmungs-Journalismus?

di Lorenzo: Die Nachrichtenflut grenzt doch für viele Leute mittlerweile an einen medialen Angriff, vor dem man gelegentlich schreiend davonlaufen möchte. Die Menschen sehnen sich nach einem Medium, das filtert – die „Gatekeeper“-Theorie kommt da plötzlich zu einer ganz neuen Blüte. Sie sehnen sich nach einer Hilfe bei der Bewertung. Politisch denken heißt ja, differenziert zu argumentieren.

Augstein: Das Schlimmste, was man dann machen kann, sind Pro- und Contra-Artikel. Das kann als Ironisierung im Feuilleton funktionieren, so wie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ es vormacht. Ansonsten halte ich es für verheerend. Diese Form von Journalismus lässt mich als Leser allein, wenn ich Orientierung suche.

di Lorenzo: Das stimmt nicht. Das Readerscan-Verfahren, das wir auch für unsere eigene Leserforschung nutzen, zeigt uns: Ein Pro und Contra erzielt regelmäßig Spitzenwerte. Offenbar wird diese Form als sehr hilfreich empfunden – was nicht heißt, dass die „Zeit“ sich davonschleicht, wenn wirklich eine klare Meinung gefragt ist.

Ein konkretes Beispiel: Würden Sie eine Schlagzeile „Raus aus Afghanistan“ mit Fragezeichen oder Ausrufezeichen setzen?

di Lorenzo: Da geht ein Graben durch die Redaktion. Zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes war es viel leichter, sich zu bekennen …

Augstein: (lebhaft)…Warum? Das verstehe ich nicht. Es ist doch eine große Verwischung zu behaupten, alles sei so schwierig geworden, dass wir keine klaren Haltungen mehr entwickeln können – statt wie vor Jahrzehnten zur Kuba-Krise oder zum Einmarsch der Sowjets in die Tschechoslowakei. Auch heute kann man sagen: Dieser Einsatz in Afghanistan ist großer Unfug. Wo ist der Unterschied?

di Lorenzo: Ich glaube, dass das Schwarz-Weiß-Denken damals viel stärker war als heute. Beispiel Afghanistan: In dieser Redaktion war die Mehrheit anfangs aus humanitären Gründen für den Einsatz. Eine stärker werdende Gruppe hält diesen Einsatz heute für sinnlos und ist dafür, ihn schnellstmöglich zu beenden. Wir zeigen Haltung, indem wir diesen internen Meinungskonflikt nach außen abbilden. Das ist nicht ehrenrührig, sondern zutiefst glaubhaft.

Augstein: Ich halte gerade den Umgang mit dem Thema Afghanistan für ein großes Versagen der Mainstream-Presse. Da zeigt sich deutlich, wie der Mechanismus funktioniert: Eine außenpolitische, gleichgerichtet denkende Berichterstatter-Community, die offenbar an den gleichen Informati
onsquellen hängt, macht es dem Leser äußerst schwer, einen eigenen, unabhängigen Blick auf die Lage zu entwickeln – und tut sich selber sehr schwer, wechselnde Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Die deutsche Presse hat viel zu lange gebraucht, diesen Einsatz skeptisch zu beurteilen.

di Lorenzo: Wenn ich „Mainstream-Presse“ höre, läuten bei mir alle Alarmglocken. Man unterstellt Journalisten, sie seien Teil der politischen Klasse und somit auch unglaubwürdig. Die schwere Glaubwürdigkeitskrise, in der die politischen Institutionen stecken, erfasst in besorgniserregender Weise auch die Medien. Da versuchen manche Medien, Glaubwürdigkeitsverlusten dadurch entgegenzuwirken, dass sie sich an die Spitze der verdrossenen Bürger stellen und selber auf die Institutionen eindreschen. Das ist mir in der Gesamtrichtung viel zu destruktiv. Der andere Weg ist der Versuch, eine Stimme der Vernunft zu sein. Dazu gehört, dass man Ambiguitäten aushält, dass man Probleme und Lösungen benennt und die Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin transparent macht.

Trotz Glaubwürdigkeitskrise steht die „Zeit“ besser denn je da, auch wirtschaftlich. Was ist Ihr Schlüssel zu diesem Erfolg?

di Lorenzo: Ein Grund dürfte sein, dass wir nicht versuchen zu majorisieren. Was Jakob Augstein macht – und übrigens meinen vollen Respekt hat –, ist möglich, wenn man sich wie der „Freitag“ an eine sehr kleine Zielgruppe richtet. Auch unsere Leser wünschen sich Haltung, sie gehen sogar davon aus, dass die „Zeit“ Politik macht – dafür kaufen sie sie ja. Sie sind aber gegen jede Majorisierung allergisch. Zudem hat uns gestärkt, dass wir unser Themenspektrum erweitert haben, mit anderen Blickwinkeln auf Themen, die bereits überall diskutiert werden.

„Ohne ein profitables Unternehmen wird es keinen Qualitätsjournalismus geben“ – ein Zitat von Giovanni di Lorenzo. Herr Augstein, fühlen Sie sich mit einer solchen Aussage angegriffen – angesichts der noch roten Zahlen des „Freitag“?

Augstein: Ich glaube gar nicht, dass die Zielgruppe, an die wir uns wenden, so klein ist. Es sind alle Leute, die ihre Zeitung als orientierenden Kompass verstehen. Aber natürlich hat Giovanni di Lorenzo völlig recht, wenn er Qualität und wirtschaftliche Lage in Verbindung bringt. Wir befinden uns noch in der Investitions- und Aufbauphase. Um auf Dauer gute Arbeit zu machen, müssen wir in absehbarer Zeit profitabel sein. In Zeiten, in denen sich immer mehr Menschen daran gewöhnen, ohne das gedruckte Wort auszukommen, ist journalistische Qualität geradezu lebenswichtig: Sonst bezahlen die Leute erst recht nicht.

Anders als die „Zeit“ arbeitet der „Freitag“ mit einer kleinen Kernredaktion und vielen freien Autoren – wie es jetzt auch der Jahreszeiten-Verlag praktizieren will. Den haben Sie, Herr di Lorenzo, dafür öffentlich heftig kritisiert. Was stört Sie daran?

di Lorenzo: Ich bin weit davon entfernt, anderen Verlagen in Not Ratschläge zu erteilen. Mich hat geärgert, dass man diese Maßnahmen, die allein der Not geschuldet sind, als Qualitätsoffensive verkauft. Das ist Verarschung. Dass ausgerechnet ein Laden, der nur aus Häuptlingen besteht, das Zukunftsmodell sein soll, glaube ich nicht. Da muss man auch mal die unbequeme Frage stellen, ob das wirklich der Strukturkrise geschuldet ist oder ob Redakteure jetzt unternehmerische Fehlentscheidungen ausbaden müssen.

Arbeitet der „Freitag“ aus Prinzip oder Notwendigkeit mit wenigen Redakteuren und vielen Freien, Herr Augstein?

Augstein: Natürlich ist es besser, eine große Redaktion mit festangestellten Experten zu haben. Das kann doch keine Frage sein…

di Lorenzo: …Das ist mal ehrlich!

Augstein:… Wir können uns das im Moment nicht leisten, weil wir ein Nischenmedium sind. Für ein großes Haus aber darf das keine Alternative sein.

di Lorenzo: …Ich muss jetzt mal die „Spiegel“-Geschichte über Kundus (Nr 5/2010, „Ein deutsches Verbrechen“, Anm.d.Red.) loben. Diese Rechercheleistung war ein Dienst an der Weltöffentlichkeit. Den Apparat dafür können sich nur noch wenige Medien auf der Welt leisten. Dabei ist das so wichtig dafür, um Missstände ans Licht zu bringen. Wer mich nach Qualitätsjournalismus fragt, den verweise ich auf dieses Beispiel.

Augstein: Das sehe ich auch so; trotzdem kann man in veränderten Strukturbedingungen auch neue Wege gehen. Die Zusammenlegung von Ressorts etwa bei „Berliner Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ scheint mir aus der Ferne so unsinnig nicht zu sein. Warum sollen nicht zwei hervorragende Regionalzeitungen, die kaum Überschneidungen bei den Lesern haben, bestimmte Redaktionsteile gemeinsam nutzen? Das macht wirtschaftlich Sinn und schadet nicht der Qualität.

Sehen Sie in solchen Strukturen – hier knapp ausgestattet, dort zusammengelegt – einen Nährboden für Meinungs-Mainstream?

di Lorenzo: Nein, auch mit knappen Mitteln können sehr interessante neue Nischenmedien entstehen. Ein gutes Beispiel für die nahezu komplette Auslagerung unter Beibehaltung einer Zentrale ist „Cicero“. Der Kollege Weimer hat da ein kluges Modell entwickelt, auch wenn er damit nur ein bestimmtes und nicht das ganze Genre bedient.

Augstein: Das ist auch nicht notwendig. Ebensowenig allerdings wie unsere unüberschaubare Produkt-Fülle auf dem Medienmarkt. Es ist nicht unbedingt alles erhaltenswert, was auf Zeitungs- oder Magazinpapier gedruckt wird. Viele Journalisten produzieren doch alles andere als Qualitätsjournalismus. Um den aber ist mir nicht bange, solange es Titeln wie „Zeit“, „Spiegel“, „FAZ“ und „Süddeutsche“ gut bis akzeptabel geht. In der Entwicklung zu weniger Marken sähe ich also nicht die Krise des Journalismus.

…sondern wo?

Augstein: Die Krise entsteht eher dadurch, dass Journalisten sich selber überflüssig machen – durch zu große Nähe zur Macht, durch zu starke Nivellierung, so dass die Leute denken, „ist eh wurscht, was ich lese, weil überall das Gleiche steht“. Früher gab es eine größere Entfernung zwischen denen, die schreiben, und denen, über die geschrieben wird. Durch eine zu starke Annäherung an die Mächtigen gerät Journalismus unter enormen Rechtfertigungsdruck.

di Lorenzo: Was Jakob Augstein hier beschreibt, sehe ich völlig anders. Die Nähe zur Macht war früher doch viel eklatanter; Journalisten gehörten teilweise zum festen Inventar von Politikern und Parteien. Wie man das für eine größere kritische Distanz zu den Machthabern halten kann, ist mir schleierhaft. Zutreffend ist: Die Loyalität darf nicht den Mächtigen gehören, sondern allein den Lesern, die ein Recht auf Aufklärung haben.

Wie lässt sich dieser Anspruch aufrechterhalten, wenn freie Journalisten, die vielen Medien mittlerweile das Gros zuliefern, von den Honoraren kaum ihren Unterhalt bestreiten können…

di Lorenzo: Es ist wahr: Manche Geschichten sind so aufwändig, dass freie Kollegen sie sich nicht leisten können. Wenn immer mehr Zeitungen redaktionelle Strukturen auflösen und Arbeit auslagern, wird die Aufdeckung von Skandalen und von Machtmissbrauch – für mich das Wesen des Journalismus – auf der Strecke bleiben. Ein Beispiel: Für eine später preisgekrönte „Zeit“-Geschichte über globalisierte Produktionsbedingungen waren einunddreißig Flüge notwendig. Natürlich ist so etwas auch bei uns eine Ausnahme. Aber: Welche Freien können sich das leisten, wenn diese Leute nicht in Strukturen eingebunden sind, die es können?

Freie unken oft: Für die „Zeit“ zu schreiben, lohnt sich höchstens für die Ehre, nicht für das mickrige Honorar. Und das, obwohl Ihr Haus ökonomisch gut dasteht?

di Lorenzo: Unter diesem Widerspruch habe auch ich gelitten. Mit 22 durfte ich ein Dossier in der „Zeit“ veröffentlichen, in dem mehr als ein Jahr Arbeit steckte. Für die vier
Seiten habe ich damals 700 Mark bekommen. Trotzdem hat mir nichts in meiner Laufbahn so geholfen wie dieses eine Dossier. Ich wünschte, wir hätten die Reserven, um die Freien besser zu bezahlen, aber ich glaube, dass man das Schreiben für die „Zeit“ auch als Investition in die eigene Laufbahn betrachten sollte…

Augstein: …(lacht laut auf) Auch wenn ich mich da jetzt auf dünnem Eis bewege…,

di Lorenzo: … auf sehr dünnem Eis…

Augstein: … finde ich diese Aussage nicht angemessen. Der „Freitag“ bezahlt seine freien Autoren schlecht; wir können aber nicht mehr bezahlen. Die Rolle der Freien wird für sehr viele Medien immer wichtiger werden, weil aus Kostengründen die eigenen Apparate verkleinert werden. Umso wichtiger ist es, dass sie sich organisieren. Als der Verband „Freischreiber“ sich gegründet hat, habe ich selber die Notwendigkeit zunächst gar nicht begriffen. Inzwischen aber bin ich der festen Überzeugung, dass die Freien die großen Häuser unter Druck setzen müssen: Wer gute Renditen hat, soll auch angemessene Honorare zahlen. Die Freien dürfen nicht ins Prekariat abgedrängt werden. Den Hinweis auf Ehre als Lohn finde ich da, nun ja, nicht vollständig befriedigend.

di Lorenzo: Das mußt du auch nicht, und wir zahlen wesentlich besser als der „Freitag“. Aber verglichen mit dem „Spiegel“ oder der „Süddeutschen“ haben wir immer noch einen ziemlich kleinen Apparat – das gilt für die Zahl der Redakteure genauso wie für unser Budget. Wir haben hart dafür gearbeitet, aus den roten Zahlen zu kommen. Eine ökonomische Grundsicherheit der Zeitung ist sicher auch im Sinne von Qualitätsjournalismus.

Der Trend zur Auslagerung journalistischer Arbeit stellt auch neue Anforderungen an die Qualitätskontrolle: Brauchen wir eine Zulassungsregel für den journalistischen Beruf?

Augstein: Um Gottes Willen, niemals! Das wäre der Tod dieser Profession. Deswegen binden wir doch die Leser so stark ein – es kommt nicht auf das Ansehen des Verfassers an, sondern auf den Text.

di Lorenzo: Journalismus ist immer noch ein Begabungsberuf, in dem man auch in schwieriger Zeit und ohne Protektion sehr viel schaffen kann. Ich rate dringend davon ab, die Zugangsmöglichkeiten einzuschränken.

Zugleich plädiere ich für ein neues journalistisches Reinheitsgebot. Wir sollten uns alle fragen: Nach welchen Kriterien drucken wir Artikel? Welche Transparenz in eigener Sache sollten wir pflegen, muß es z.B. öffentlich gemacht werden, wenn ein Redakteur CDU-Mitglied ist und über die CDU schreibt?

Reicht ein Pressecodex also nicht mehr aus?

di Lorenzo: Im Sinne einer größeren Transparenz für den Leser halte ich’s für gut, wenn sich Zeitungen über den Pressekodex hinaus eigene Leitlinien geben.

Augstein: Ich wäre bei solchen Vorschriften sehr, sehr vorsichtig. In den Ethik-Regeln der „New York Times“ wird der Fall diskutiert, ob Ehepartner von angestellten Journalisten Wahlkampfaufkleber auf dem Familienauto haben dürfen. Das ist zwar irre – aber in der Logik dieses Denkens konsequent. Man landet da schnell im Eiferertum.

Schlussfrage: Nennen Sie uns bitte drei Merkmale, die Ihr ideales Medium erfüllen muss.

Augstein: Auf der Seite der Schwachen. Unberechenbar. Klug.

di Lorenzo: Das könnte ich so unterschreiben. Das ist aber auch wie die Entdeckung des warmen Wassers im Badezimmer. Auf der Seite der Schwachen darf nicht bedeuten, zugleich aus Prinzip gegen die Starken zu sein, das ist schon ein Gebot der Fairness. Ich würde gern eine zusätzliche, von Journalisten oft unterschätzte Dimension nennen: Zeitungen brauchen auch eine sinnliche Dimension – visuell und thematisch. Zeitungsjournalismus muss sein wie Gummibärchen in der Oper: Man scheut das Knistern, aber wird dann doch verlockt und greift in die Tüte.

Interview: Annette Milz und Daniel Kastner

Erschienen in Ausgabe 04+05/2010 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 20 bis 22. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.