„ Fürchtet Euch nicht!“

Aufgewachsen unter verschiedenen und unterschiedlichen Zwängen meiner und der noch älteren Generation, konnten wir erfahren: Auch dort, wo Freiheit öffentlich abgeschafft war, war Freiheit möglich. So ist mein erster Satz für alle, die sich in diesem Gemeinwesen um ihre eigene Entwicklung und um die Entwicklung dieses Gemeinwesens kümmern: Freiheit ist möglich.

Wir wissen nur zu gut, dass es nicht immer und überall möglich ist, frei zu sein. Aber was wir gelernt haben in dem vergangenen blutigen Jahrhundert, ist dies, dass weder Mauer noch Stasi, noch finstere braune Systeme Menschen dazu verführen können, die Sehnsucht nach der Freiheit gänzlich aus ihrem Leben zu verbannen, nur damit man ungestört leben kann.

Menschen haben immer eine Wahl – in einer Diktatur wahrlich nicht jede, aber es existieren immer Möglichkeiten, sich für das weniger Schlechte und etwas Bessere zu entscheiden. Manchmal besteht diese Wahl darin, Nein zu sagen, wenn es anscheinend aufwärtsgeht. Auch das bringe ich mit als Erfahrung aus einer Diktatur. Manchmal gerät man in Situationen, in denen es quasi vernünftig erscheint, sich anzupassen und die eigenen Urteile, die eigene Urteilsfähigkeit, links liegen zu lassen. Warum ist das rational? Weil es nach oben führt. In der Diktatur ist das ganz klar, das Partizipationsprinzip aller Diktaturen lautet: Knie nieder und du wirst erhoben werden.

Aber diese Unterwerfungsstrategie gibt es nicht nur in Diktaturen, sondern überall, wo es Hierarchien gibt. Hierarchien sind hilfreich und notwendig. Man kann sie so leben, dass sie Menschen, die noch unten sind, ermutigen, bald nachzukommen nach oben. Und man kann sie so gestalten, dass man ein uraltes Kommando ausgibt: Fürchte dich davor, mir zu gleichen. Dann werde ich dich beizeiten befördern, falls ich es will.

Natürlich kennen wir solche Chefs. Aber natürlich wissen wir auch, dass solche Chefs schlechte Chefs sind. Zukunft entsteht dort nicht. Zukunft entsteht dort, wo Chefs imstande sind, zu ermutigen und Menschen zu ermächtigen. Wo Verantwortung zugetraut wird, dort wird auch Verantwortung gelebt. Deshalb mein Rat an die jungen Menschen, die am Beginn einer Karriere in diesem Bereich, der so wichtigen vierten Gewalt, stehen: Fürchtet euch nicht. Die Furcht wird euch etwas beibringen, was euch nicht nützt. Ihr werdet eines Tages merken, ihr habt zu teuer dafür gezahlt. Als ihr gehorsam wurdet, da habt ihr euch den Schneid abkaufen lassen. Und eure Fantasie wird dem Schneid folgen. Eure Kraft wird folgen, und irgendwann wird das Herz, das heute noch so deutlich zu spüren ist, nicht mehr schlagen. Ihr seid dann irgendwer. Und ein Irgendwer als Chef ist peinlich.

„Fürchtet euch nicht“ – den Satz habe ich nicht erfunden, den habe ich aus der Heiligen Schrift. Aber ich weiß, jeder von uns kann ihn sprechen, auch wenn wir ihn noch nicht leben können. Denn immer, wenn wir von Freiheit sprechen, taucht auf der anderen Seite eine machtvolle Gestalt auf: Die Furcht vor der Freiheit. Auch diesen Begriff habe ich nicht erfunden. Er stammt von Erich Fromm, der unmittelbar nach dem Krieg ein außerordentlich lesenswertes Buch zu diesem Thema geschrieben hat. Im Original heißt es: „Escape from freedom“, aber auf Deutsch – nicht ohne Hintersinn des Verlages: „Furcht vor der Freiheit“. Denn Furcht ist das, was dieses Land am besten kann und am häufigsten an den Tag legt.

Deshalb wird auch jener Journalismus reüssieren, der dem Volk die nötige Nahrung an Furcht und Angst bereithält. Das bringt jetzt ja fast noch mehr Geld als Sex and Crime. Ich sagte aber, fürchtet euch nicht, weil es mit der Furcht so ist, dass unsere Augen klein werden und unsere Herzen matt. Auch wenn wir wissen, dass jeder Freiheitsraum, den wir neu betreten, von machtvollen Ängsten begleitet wird, ahnen wir gleichzeitig, dass diese Furcht überstanden werden kann.

Erlauben Sie dem ehemaligen Pfarrer, eine biblische Stelle zu zitieren, die Erich Fromm benutzt, um die Normalität von Angst gegenüber Räumen der Freiheit zu schildern. Er schaut den alten biblischen Mythos von der Paradiesgeschichte an und beschreibt seinen Lesern, wie die Freiheit entstanden ist nach dieser Erzählung. Da war der Garten Eden, in dem alles geregelt war. Die Menschen waren glücklich in ihm. Das waren zwei. Und diese beiden kriegen gesagt: Ihr könnt hier alles tun, nur eins nicht: Diesen Apfelbaum lasst bitte in Ruhe. Aber der Mensch ist so beschaffen, dass er sich danach nicht richten mag. Er kann und will tun, was er nicht darf, er greift nach dem Apfel. In diesem Moment, so Fromm, wird die Freiheit geboren.

Aber der nächste Blick zeigt uns, auf diese Geburt der Freiheit folgt ein Leben in ständiger Furcht vor der Verlorenheit. Man ist raus aus dem Paradies und sehnt sich immerfort nach einer Welt, die man verloren hat. Fromm nimmt dieses Bild als Beleg dafür, dass die Furcht vor der Freiheit eben nicht eine Erfindung derer ist, die sich gerade mühsam herausbewegen aus den Diktaturen und diesen Gehorsamsstrukturen, sondern eigentlich eine anthropologische Konstante ist. Deshalb: Niemand von Ihnen wird auf dem Weg durch das Medienleben frei sein von allerlei Ängsten. Es kommt nicht darauf an, sich nicht zu fürchten, sondern es kommt darauf an, sich nicht von der Furcht regieren zu lassen.

Freiheit begegnet uns ja zunächst als machtvolle Sehnsucht: Ich möchte frei sein von allem und bin glücklich, wenn ich dieses rauschhafte Erlebnis habe, es kann mir keiner etwas anhaben, mich dominieren. Leider ist diese Freiheit,wenn sie sehr jung ist, sie Freiheit in der Pubertät ist, anarchisch, ungebärdig, wild. Sie ist großartig, lebendig, wie die Pubertät eine Zeit großartiger Lebendigkeit ist. Aber die Pubertät muss vorbeigehen. Denn schon dann, wenn wir einen Menschen lieben und daraus hervorgehend das Bedürfnis haben, immer für diesen Menschen da zu sein, erleben wir uns als Bezogene. Wir entdecken plötzlich ohne jeden Zwang das schöne erwachsene Gesicht von Freiheit: Ich bin frei zu etwas und für etwas. In diesem Moment nennen wir die Freiheit Verantwortung. Verantwortung heißt die Freiheit der Erwachsenen. Sie ist deshalb so ein wertvolles Gut, weil es keine andere Lebensform gibt, mit der denkende Menschen glücklich sein können. Es ist das Ankommen in einem wesentlichen Bereich des Humanum. Wir sind verantwortungsfähig. Wer dauernd pubertär bleiben will, endet in Albernheit. Sie werden nicht satt werden von Albernheiten, auch wenn Sie dafür sehr gut bezahlt würden.

Ich habe lange Jahre gebraucht, ehe ich begriffen hatte und ehe ich mich auch mit meinen eigenen Eitelkeiten auseinandergesetzt hatte, dass es eine Verführung ist, diesen leichten Weg des Einschwenkens in Erwartungen anderer oder in die Bedürfnisse des Zeitgeistes zu gehen. Aber man muss diesen leichteren Weg nicht gehen, sondern kann sich vornehmen: Ich wähle eine Freiheit, die nicht ohne Verantwortung sein mag.

Dazu gehört, dass ich die Wahrheit lieb habe. Ich sage das ganz bewusst in dieser einfachen kindlichen Form. Ich weiß, dass Sie das niemals so sagen dürfen in irgendeinem Berliner Salon. Wofür würde man Sie dann halten? Sprechen Sie ruhig anders. Aber innen drin, in Ihnen muss neben der Liebe zur Freiheit eine Liebe zur Wahrheit existieren. Diese Liebe zur Wahrheit ist deshalb so wichtig, weil Ihnen unter Umständen in einer sehr schwierigen Lebenssituation, wenn Sie Führungsaufgaben bekommen, Teilverantwortlichkeiten als wichtiger erklärt werden als die Gesamtverantwortung für Freiheit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Es kann sein, dass Chefs und Geldgeber Ihnen erklären, wir müssen unser Medium entscheidend umgestalten, und es kann sein, dass Sie sagen, das könnt ihr machen, aber meine Wahrheit ist da nicht dabei, meine Fähigkeit und meine Kraft auch nicht. Dann werden Sie nicht befördert, vielleicht sogar gefeuert.

Aber glauben Sie einem alten Mann: Manche Umwege helfen. Und manche Aufwege sind so schnell, dass Sie sie zu teuer bezahlen, dass
Sie irgendwann, wenn Sie da oben sind, mit gut gefüllten Taschen, aber leerem Kopf und noch leererem Herzen, ohne die Wahrheit, die Ihnen einst am Herzen lag, dass Sie dann wirklich zu teuer bezahlt haben. Auch das müssen einige ausprobieren, aber doch bitte nicht alle.

Deshalb hat mich auch so begeistert, mit welcher Fantasie und welchem Witz denen, die ihren Platz im System suchen, Qualitätsjournalismus gelingt. Er lebt, weil er Verstand und Herz anspricht und weil er die Leute erreicht. Es geht. Diese Gesellschaft ist imstande, diese Räume zu eröffnen. Wir müssen nicht vorschnell unsere Waffen abgeben und unsere Begeisterung löschen, nur weil wir Angst haben, wir könnten dem Zeitgeist nicht entsprechen.

Einen Kampf mit dem Zeitgeist aufzunehmen ist deshalb so schwer, weil er das beinhaltet, was scheinbar alle denken. Es ist ja nicht so, dass der Zeitgeist immer auf Abwegen ist. Aber ob und wann das so ist, kann eben nur der erahnen, der die Wahrheit wirklich will und sucht und der bereit ist, die Freiheit als Verantwortung zu leben.

Link:Tipp

Die Rede (im Auszug hier dokumentiert) hielt Joachim Gauck Anfang Mai zur Verleihung des Axel-Springer-Preises für junge Journalisten 2010. Infos: www.axel-springer-akademie.de/axel-springer-preis.html

Zu den diesjährigen Gewinnern und ihren Arbeiten s. a. unsere Beilage „Best of …“ in dieser Ausgabe von „medium magazin“.

Lektüretipp

Joachim Gauck „Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen“,

Siedler 2010

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Special“ auf Seite 56 bis 57. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.