Gefördertes Misstrauen

Eine junge Frau namens Sophie hastet durch den New Yorker Central Park, ihre blonde Mähne im Wind, das Handy am Ohr. Sophie ist Fact-Checkerin, die im Moment nur eine Frage plagt: Ist das ikonische Foto des küssenden Paares auf dem Times Square bei den spontanen Feierlichkeiten zum Kriegsende 1945 nur gestellt oder Ausdruck leidenschaftlicher, wahrer Liebe? Schließlich meldet sich der Augenzeuge: Ja, er habe beobachtet, wie sich der ausgelassene Matrose in einem Sturm aus Konfetti eine flanierende Krankenschwester griff und sie küsste, als gäbe es kein Morgen. Auftrag erfüllt, „fact checked“! In der Filmromanze „Briefe an Julia“ (ab August im Kino) wird ein eigentümliches Bild gezeichnet von jenem Journalistentypus, dessen alleinige Aufgabe es ist, die Beiträge der Kollegen auf Fehler zu überprüfen. Eigentümlich deshalb, weil die schöne Sophie in einem Dilemma steckt. Ihr innigster Wunsch: „Stop checking and start writing.“

Das Profil professioneller Faktenprüfer im Journalismus könnte in den Augen angehender Journalisten tatsächlich ambivalenter nicht sein. Angesichts klischeehafter Vorstellungen, wie sie im populären Filmbetrieb gerne ausgemalt werden, ist es kein Wunder, dass Nachwuchsjournalisten ein nur unterentwickeltes Verständnis davon haben, was sich hinter der Aufgabe von Fact-Checkern verbirgt – und wie essentiell ihre Arbeit insbesondere dann ist, wenn in angespannter Wirtschaftslage an allen Ecken und Enden gespart wird und die Qualität journalistischer Berichterstattung leidet.

An der Fontys Hogeschool Journalistiek im niederländischen Tilburg wurde im September 2008 ein Seminarkonzept erprobt, das zum Ziel hatte, das Bewusstsein für die Notwendigkeit der Faktenprüfung – des „Fact-Checkings, wie es international heisst – bei Journalistik-Studenten zu schärfen, auch um ihre hehren ethisch-moralischen Vorstellungen vom Journalistenberuf mit den tatsächlichen Arbeitsverhältnissen abzugleichen. Der Ansatz: Indem angehende Journalisten die tagtägliche Berichterstattung in Presse, Radio, Fernsehen und Online-Medien kritisch verfolgen und die Inhalte solcher Beiträge nachrecherchieren, die ihnen verdächtig oder nicht plausibel erscheinen, gewinnen sie eine differenziertere Vorstellung davon, welchen Störfaktoren die alltägliche Redaktionsarbeit unterliegt und welchen Fehlerquellen selbst erfahrene Journalisten aufsitzen können.

Mittlerweile ist das Fact-Checking-Seminar fester Bestandteil des Curriculums: Jedes Jahr durchlaufen circa 100 Studierende an der Tilburger Hochschule das praktische Recherchetraining. Fact-Checking in der Journalistenausbildung setzt in erster Linie voraus, dass Überzeugungsarbeit in einem sensiblen Terrain geleistet wird: Misstrauisch zu sein gegenüber der eigenen Profession, ja gegenüber den eigenen Vorbildern. Ähnlich verhielt es sich bei der Masterklasse 2011 der Hamburg Media School, wo das Seminarkonzept in leicht abgewandelter Form erstmals im Herbst 2009 aufgegriffen wurde und im Jahr 2010 wieder angeboten wird: Hier mussten 21 Studierende ebenfalls erst von der Sinnhaftigkeit des akribischen Faktenprüfens überzeugt werden, um mit kritischem Blick die aktuelle Tagespresse, Online-Medien und Fernsehnachrichtensendungen zu verfolgen.

Es ist keine triviale Angelegenheit, Studierende für die Fallstricke des Journalistendaseins zu sensibilisieren. Für viele gestaltet sich die Seminarteilnahme wie ein Sprung ins kalte Wasser: Die Studierenden haben die Aufgabe, jeden Tag nicht selbst journalistische Beiträge zu produzieren, sondern bereits veröffentlichte Nachrichtenbeiträge aller Darstellungsformen und Mediengattungen nachzurecherchieren. Überprüft wird das Klein-Klein des NachrichtenOutputs ebenso wie das große Ganze: Ist das Thema eines Berichts tatsächlich faktengetreu? Sind die Quellen seriös? Hält er dem Check stand oder löst sich sein Nachrichtenwert in Luft auf? Oder aber handelt es sich womöglich um eine Fälschung?

Kein Fälscherskandal, aber hohe Fehlerquoten. In Tilburg wurden in eineinhalb Jahren mehr als 180 größere News Stories einer systematischen Prüfung unterzogen. Die meisten davon erwiesen sich als fehlerhaft. Für die Studierenden war das ein herber Dämpfer ihres Glaubens an die Wahrhaftigkeit journalistischer Arbeit. Gleichzeitig hofften nicht wenige Seminarteilnehmer auf eine große Enthüllung, doch noch konnten weder in Tilburg noch in Hamburg große Fälscherskandale aufgedeckt werden. Das ist auch nicht das Ziel. Zwar zeigt die Affäre rund um den Kulturjournalisten Ingo Mocek und das Magazin „Neon“, dass sich der Borderline-Journalismus à la Tom Kummer (ehemals „SZ Magazin“) offenbar immer wieder zweifelhafte Geltung verschaffen kann. Doch hat sich in überwältigender Vielfalt gezeigt, dass der Fehlerteufel im Alltag und Detail sein Unwesen treibt.

Es beginnt bei Kleinigkeiten wie Orthografiefehlern und reicht bis zur ungeprüften Übernahme von PR-Informationen. Dazwischen tummeln sich Nachlässigkeit und bewusste Irreführung wie u. a. Sensationalisierungen, denen bereits pathologische Ausmaße diagnostiziert werden können – darauf lassen zumindest die Ergebnisse der stichprobenartigen FaktenChecks schließen. Übertreibungen, Superlative, Verkürzungen, Verwechslungen, Suggestionen, Ungenauigkeiten wie die Falschschreibung von Namen, Missverständnisse bei der Faktenwiedergabe oder aus dem Zusammenhang gerissene Inhalte, aber auch lausige Belegführung sind nur einige wichtige Fehlerkategorien, die von den Studierenden entdeckt wurden.

In Hamburg umfasste das Themenspektrum lokale Ereignisse wie die Entgleisung einer S-Bahn, überregionale Nachrichten wie Wettmanipulationen im Fußball bis hin zu internationalen Belangen wie Berichte über Ausschreitungen in Athen. Ungefähr jeder zweite Beitrag war in Teilen fehlerhaft. Die Tilburger Erfahrungen sind da noch vielseitiger: Schädigen Schnarcher die Wirtschaft? Nein. Werden mehr Katzen und Hunde durch die Wirtschaftskrise von ihren Herrchen und Frauchen verstoßen? Quatsch. Ein weiteres Beispiel unterstreicht, in welch fatale Abhängigkeit sich die Nachrichtenbranche auf Umfragen begeben hat: „Eine von zwei Katzen hat Verhaltensprobleme“, meldete die Nachrichtenagentur ANP und bezog sich auf die Ergebnisse einer Meinungsumfrage, die von einer ambitionierten Sachbuchautorin durchgeführt worden war. Die Umfrage basierte auf Suggestivfragen wie: „Stört Sie manchmal das Verhalten Ihrer Katze?“ 56 Prozent der Befragten antworteten mit „Ja“. Flugs wurde eine Pressemitteilung erstellt, und innerhalb von 24 Stunden verwandelte sich die PR-Meldung in eine Nachricht. Die Autorin konnte sich freuen, schließlich eröffnete sie kurz darauf ein Trainingszentrum für Katzenbesitzer, deren Lieblinge Verhaltensprobleme haben – mit Begleitbuch.

Die Reaktionen der mit ihren Fehlern konfrontierten Journalisten fielen in Holland wie in Deutschland (siehe auch Seite 54f) unbefriedigend aus. Nur selten wurde die Kontaktaufnahme der Studierenden mit den Redaktionen als Kooperationsangebot wahrgenommen, sondern oft genug als „Majestätsbeleidigung“ durch unwissende Journalistenschüler. Die Abwehrhaltung vieler Redaktionen verunsichert die jungen Fact-Checker zum Teil nachhaltig – mit der Konsequenz, dass einige Studierende zögern, ihre Recherchen zu veröffentlichen.

Die Furcht vor der Missgunst kritisierter Redakteure, die sich bei der späteren Jobsuche rächen könnten, ist kein geringer psychologischer Hemmfaktor. Dieses Risiko lässt sich perspektivisch nur durch die Ausweitung und weitere Professionalisierung studentischer Fact-Checking-Projekte minimieren und indem das Verhältnis zwischen Journalistenausbildung und Medienpraxis nicht als Gegeneinander wahrgenommen wird, sondern als konstruktiver Austausch. Denn die Hochschulprogramme haben nicht nur ihren Studierenden viel zu bieten: Auch die innerbetriebliche Weiterbildung kann von den Projekten profitieren.

Tipp Jo
urnalisten-Werkstatt „Fact-Checking“

(medium magazin 4-5/2010), zu beziehen für 3,10 Euro über vertrieb@mediummagazin.de, oder www.mediummagazin.de, Shop

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Special“ auf Seite 50 bis 50. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.