Leichenfledderei

Alles blickt derzeit nach Afrika. Die Fußball-Weltmeisterschaft am Kap lässt den finsteren Kontinent im Blitzlichtgewitter aufleuchten. Die WM – ein Segen für die sonst vernachlässigte Afrika-Berichterstattung? Nicht wirklich, denn wir Journalisten, die wir permanent in Afrika leben, wir sehen nun die Eintagsfliegen-Journalisten aus Übersee einfliegen. Doch dies kann gewaltig schiefgehen; wie der jüngste Skandal in Uganda zeigt.

CNN, BBC, „New York Times“ – sie alle haben über rituelle Kindesopfer in Uganda berichtet. Die Geschichte passt ins Afrika-Bild: In Uganda gebe es Medizinmänner, die Kinder opfern und deren Organe für Rituale benutzen. Kinderschänder – afrikanischer Art. Ein Skandal, in der Tat, aber …

Ein Skandal ist vielmehr, welche Geschichten diese Journalisten in wenigen Tagen ausgraben: Ein Ex-Medizinmann gestand in einem BBC-Interview vor laufender Kamera seine Taten. Über 70 Kinder seien für seine Opferriten ermordet worden. Die ugandische Polizei reagierte. Der konvertierte Hexendoktor wurde festgenommen. Er gestand: Er habe gelogen. Er hätte gehofft, Spendengelder für seine Organisation zu sammeln, die sich gegen Kindesopfer einsetzt.

Angelockt von der BBC-Schlagzeile „Zahl der Kinderopfer in Uganda steigt“ machte sich auch der italienische Fotojournalist Marco Vernaschi nach Uganda auf. Der preisgekrönte Vernaschi recherchiert im Auftrag des Pulitzer-Centers in Washington DC. Vor Ort erfuhr er vom jüngsten Fall: Die zehn jährige Margaret wurde angeblich Opfer eines Ritualmordes. Ihr Bein und Arm waren mit einer Machete abgetrennt. Sie war am Nachmittag beerdigt worden.

Doch das frische Grab zu fotografieren, das war für Vernaschi nicht genug. „Es war eines der härtesten Dinge, die ich je in meinem Leben getan hatte“, gesteht er in seinem Blog. „Ich war mitten in der Nacht bei der trauernden Mutter aufgetaucht und fragte sie, ob sie den Leichnahm ihres Kindes ausgraben könne, um den verstümmelten Körper zu fotografieren.“ Der anwesende Dorfälteste überzeugte die Mutter. Doch dafür musste er bezahlen. Der Dorfvorsteher fragte ihn, nachdem die Fotos bereits geschossen waren, nach einer „kleinen Aufmerksamkeit“. Er gab ihr 70 Dollar.

Vernaschi rechtfertigt sich im Nachhinein: „Ich war überrascht.“ Doch wer sich länger in Afrika aufhält, der weiß: Alles ist Aushandlungssache. Und: „Deals“ bleiben unausgesprochen. Das weiß man, wenn man mit dem Land und der Kultur vertraut ist – Erfahrungen, den sich kein Eintagsfliegenjournalist anrecherchieren kann.

Mit oder ohne Bezahlung: Es geht entschieden zu weit, Leichen auszugraben – egal in welchen Kulturkreisen. Vernaschi rechtfertigt sich: Er wollte die grausamen Verstümmelungen dokumentieren, um seine These von den Ritualmorden zu belegen. Doch spricht man mit ugandischen Experten, dann ergeben sich daran Zweifel. Für Ritualmorde werden die Organe entwendet, nicht die Gliedmaßen. Vernaschi behauptete, das Gehirn und das Herz seien entfernt worden. Doch die Polizei hatte bei der Obduktion keine Hinweise darauf gefunden. Es steht also sogar die Frage im Raum, ob die kleine Margaret überhaupt Opfer eines Ritualmörders wurde.

Der Fall hat Journalisten und Fotografen rund um den Globus aufgeschreckt. In Foren und Blogs diskutieren sie den Tabubruch. Die einen argumentieren: Die Ritualmorde benötigen Öffentlichkeit, um ausgemerzt zu werden. Dafür müssten Fotografen mitunter Regeln und Gesetze brechen. Im Subtext wird jedoch deutlich: Der Wettbewerb um das Bild ist knallhart. Die Verlockung zu manipulieren ist groß. Denn: Wettbewerbs-Preisträger erlangen mitunter Popstar-Status; von den Preisgeldern ganz zu schweigen.

Die anderen zählen auf, gegen welche Regeln und Gesetze Vernaschi verstoßen habe: die internationale Menschenrechtskonvention zum Schutz der Würde des Opfers sowie lokales, ugandisches Recht, nachdem Leichen nicht ohne Genehmigung exhumiert werden dürfen. Auch moralisch habe er sich über Regeln hinweggesetzt: Die Totenruhe zu stören ist in vielen Kulturen, vor allem in Afrika, ein Vergehen. Dies gibt er selbst zu: „Die Grenzen waren irgendwie überschritten.“

Das Pulitzer-Center „bedauert jeglichen Schaden, der daraus entstanden sei“. Man wolle das Projekt über die Kinderopfer in Uganda fortsetzen, jedoch die Mühe „verdoppeln“, die Privatrechte der Opfer zu schützen. „Wir haben einige schmerzhafte aber nützliche Lektionen gelernt“, heißt es in einer Stellungnahme.

Immerhin, doch so weit hätte es niemals kommen müssen. Als bisheriger Ethik-Standard gilt der vom US-Fotografen-Verband „National Press Photographers Association“ bereits aufgesetzte Codex. Fotografen debattieren nun über neue Regeln für visuelle Journalisten (siehe Linktipps).

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 48 bis 48. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.