Unter vier Augen

Für Stephan Weigel, stellvertretender Chefredakteur der „Financial Times Deutschland“ (FTD), gehören Korrekturschleifen zu den wichtigsten Maßnahmen zur Qualitätssicherung. Insgesamt 17 Mitarbeiter arbeiten im Lektorat/Korrektorat der FTD, darunter drei Vollzeit- und zwei Teilzeitkräfte sowie sechs studentische Hilfskräfte. Die Abteilung überprüft sämtliche Artikel der täglichen Ausgabe, in erster Linie jedoch nur auf orthografische Ungereimtheiten. Ein fester Produktionszeitplan soll sicherstellen, dass der hohe Qualitäts- nicht mit dem Aktualitätsanspruch konfligiert.

Klassische Faktenchecks werden zeitbedingt aber nicht durchgeführt, allenfalls Plausibilitätsfragen geklärt, was jedoch nicht zur eigentlichen Aufgabe des Lektorats gehört und vom Interesse des jeweiligen Mitarbeiters abhängt. Weigels Auffassung jedoch, dass die Tradition des Fact-Checkings bei großen Qualitätsmedien nicht so wichtig sei, weil die Redakteure auf ihrem jeweiligen Fachgebiet als Spezialisten eine hohe inhaltliche Kompetenz auszeichnet, trägt nicht sehr weit – zumindest dann nicht, wenn es um die Mehrheit an Redaktionen geht, die das Nachrichtenaufkommen mit weniger luxuriösen Ressourcen und personeller Ausstattung zu bewältigen haben.

Das beweisen eindrucksvoll die Fehlerquoten, die die studentischen Fact-Checker bei ihren Recherchen aufgedeckt haben. Nur: Was steckt hinter dem laxen Umgang mit Informationen? Woher kommen all die Flüchtigkeitsfehler und Verständnisprobleme?

1. Unzuverlässige bzw. PR-Quellen. Journalisten, deren untersuchte Beiträge Fehler aufwiesen, arbeiten bisweilen mit unzuverlässigen Quellen bzw. solchen, hinter denen ein PR-Interesse steckt. Häufig stellte sich heraus, dass Journalisten sich nicht für Originaldokumente wie zum Beispiel Studien interessieren – mangels Zeit, sich in die Materie einzuarbeiten. Deshalb greifen sie auf vorbereitete Pressemitteilungen zurück und hinterfragen nicht die Hintergründe des Quellenmaterials.

2. Fehlende Differenziertheit. In der Nachrichten-Kette gehen Nuancen verloren, die für eine ausgewogene Berichterstattung notwendig sind. Mangels Detailinformationen werden krampfartig Trends und Superlative konstruiert, die eigentlich nicht existieren.

3. Unzureichendes Methodenwissen. Selbst Rechercheprofis müssen gemeinhin passen, wenn sie damit konfrontiert werden, Statistiken auszuwerten oder Kalkulationen anzufertigen, um akkurat berichten zu können. So werden die methodischen Ansätze einer Untersuchung oftmals geflissentlich überlesen und Umfrageergebnisse nicht hinterfragt – und damit Fehlinformationen Tür und Tor geöffnet.

4. Gefahr der Manipulation. Journalisten sind nicht unbedingt geübt darin zu bemerken, wenn sie manipuliert werden. Gerecht ist, was interessiert, und damit leider auch das, was ein Interesse hat. Aufgabe der PR ist es, interessensgesteuerte Informationen an Teilöffentlichkeiten zu kommunizieren, wozu sie sich des Journalismus bedienen. Besorgniserregend ist es aber, wenn Journalisten wissen, dass sie für diese Zwecke instrumentalisiert werden, aber sich nicht darum scheren.

5. Fehlerquellen im Redaktionsprozess. Häufig stellten die studentischen Fact-Checker eine starke Diskrepanz zwischen der Überschrift eines Artikels und dessen Inhalt fest. Gleiches gilt für Bildunterschriften, die wie im Fall der Headline von Redakteuren eingefügt werden, die keine Detailkenntnis über den Inhalt des Beitrages haben und im Produktionsstress Fehler machen.

6. Plausibilität vor Akkuratesse. Journalisten erfinden sogar manchmal Erklärungen, um eine Story veröffentlichen zu können. Das kann an Unwissenheit, Gutgläubigkeit oder einer allzu freudigen Kombinationsgabe liegen: Manche Journalisten lieben es offenbar so sehr, Phänomene oder Trends zu entdecken, dass sie zwei vollkommen getrennte Sachverhalte miteinander in Bezug setzen und damit etwas beweisen wollen.

Es mag nachvollziehbar erscheinen, dass Journalistik-Studierende für solche Fehltritte wenig Verständnis haben, schließlich wollen sie es besser machen. Fact-Checking in der Journalistenausbildung hat nach Ansicht der Studierenden in erster Linie das Ziel, zur Stärkung der journalistischen Identität als unabhängige Rechercheure beizutragen. Diese Selbstvergewisserung in Zeiten unsicher gewordener Journalistenidentitäten und eines unter Druck geratenen Berufsbildes wird flankiert mit einem effektiven, praxisbezogenen Training von Recherchefähigkeiten (Online, Datenbanken, Telefon etc.), das gezielt die Fehleranfälligkeit des journalistischen Arbeits- alltags in den Blick nimmt.

Die Lehren für die Redaktionspraxis.

Die studentischen Projekte haben offenbart, wie leicht und schnell Fakten überführt werden können, die falsch sind – was im Social-Media-Zeitalter oft genug und immer schneller passiert. Die Folge ist eine möglicherweise langfristige Beschädigung des journalistischen Ansehens. Um so wichtiger ist es, dass Redaktionen auch unter Zeit- und Kostendruck dafür sorgen müssen, die Fehleranfälligkeit ihrer publizistischen Produkte zu minimieren und folgende Erkenntnisse nicht gering zu schätzen:

* So banal es klingen mag: Wer mit einer soliden Story an die Öffentlichkeit möchte, der sollte bei den Fakten bleiben. Die Rechercheergebnisse der Studierenden haben auch gezeigt, dass gewissenhafte Faktenchecks oft auch zu einer ganz anderen, sogar interessanteren Story führen können im Vergleich mit Schnellschüssen.

* Journalisten sollten gegenüber anderen Medienmarken skeptischer sein: Nur weil ein vermeintlicher Fakt im „Guardian”, bei der BBC, von der dpa oder AP veröffentlicht wurde, bedeutet das nicht automatisch, dass er tatsächlich korrekt ist. Jeder Journalist sollte sich bei seinen Weiterdrehs einer Geschichte oder der Übernahme von Agenturmaterial selbst vergewissern, dass es sich um akkurate Inhalte handelt.

* Wo Expertenwissen fehlt, sind Fehler beinah vorprogrammiert. Jeder Newsroom braucht Allrounder – aber genauso Spezialisten, die sich auf thematischen und methodischen Feldern besonders gut auskennen, z. B. ressortübergreifend prüfen können, wie seriös extern angefertigte Umfragen, Studien oder Kalkulationen sind. Allzu oft wird Repräsentativität bloß vorgegaukelt, wichtige Hintergrundinformationen über die Entstehung von Statistiken verschwiegen. Journalisten ohne ausreichende Faktenkenntnisse sind auch ein gefundenes Fressen für versierte PR-Strategen.

* Journalisten sollten auch bei der Anforderung von originalem Quellenmaterial keine Zurückhaltung üben. Recherche ist in den seltensten Fällen so zeitaufwendig, wie gerne behauptet wird. Unternehmen, Verbände, Parteien wie Vereine haben starke Eigeninteressen, wenn sie sich an Journalisten wenden. Wer sich auf die vorbereiteten PR-Häppchen verlässt, macht sich zum Erfüllungsgehilfen. Die Anfertigung von Rechercheprotokollen ist eine vergessene Tugend, die wieder mehr Beachtung verdient.

* Journalisten müssen sich ihrer partiellen Unwissenheit nicht schämen; schließlich ist es ihr Job, Fragen zu stellen. Manchmal reicht schon eine kurze Frage bei unabhängigen Experten zur Vergewisserung. Hilfreich sind da Einrichtungen wie der Informationsdienst Wissenschaft, der mit einem sogenannten „Expertenmakler“ als verblüffend zeiteffiziente Schnittstelle zwischen Berichterstattern und Fachleuten aus allen Wissenschaftsbereichen fungiert.

Feste Regeln.

Um die Fehlerqote gering zu halten, lassen sich bereits mit einigen einfachen Schritten verbindliche Sicherheitsvorkehrungen treffen. Das Vier-Augen-Prinzip ist eine davon. Das Problem: Wer im selben Boot sitzt, steht vor dem Dilemma, seinen Kollegen zu kritisieren und damit auch selbst angreifbar zu werden. Die Fact-Checker beim US-Magazin „The New Yorker“ oder die Dokumentarjournalisten beim Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ arbeiten mit gutem Grund getrennt von ihren schreibenden Kollegen. Unter direkten Arbeitskollege
n gilt schnell als „Korinthenkacker“ und Nestbeschmutzer, wer Fehler in Beiträgen anderer aufzeigt. Demgemäß fällt das Gegenlesen in der Regel recht soft und halbherzig aus.

Die innerbetriebliche Weiterbildung sollte hier ansetzen, um einheitliche Formen und Kriterien für eine konstruktive gegenseitige Kritik zu finden: Wie können sie die Arbeit ihres Tischnachbarn in Frage stellen, ohne ihm Schludrigkeit zu unterstellen? Wie kann man sichergehen, dass der Kollege gewissenhaft den Forschungsbericht in voller Länge gelesen oder die Schreibung eines Namens noch einmal überprüft hat?

Diese Maßnahme erfordert zwei Schritte: Erstens müssen Redaktionen ihre Mitarbeiter verpflichten, das Vier-Augen-Prinzip anzuwenden. Zweitens müssen sie ihnen beibringen, wie es geht – und zwar durch Kommunikationstraining und klare Regelstrukturen, die sicherstellen, dass keine Missverständnisse entstehen.

Konsequenzen für einen guten Zweck.

Eine weitere, nicht unproblematische, aber ungeheuer effektive Maßnahme hat sich bereits beim studentischen Fact-Checking-Projekt im niederländischen Tilburg als probat erwiesen, um alle Beteiligten für die gemeinsame Sache zu disziplinieren. Wem nachweislich ein Fehler unterläuft, der muss dem Betroffenen auf eigene Kosten einen Kuchen kaufen und persönlich überreichen. Übertragen auf das professionelle Redaktionsumfeld könnte dies beispielsweise bedeuten, dass Journalisten im Falle eines Fehlers z.B. 50 Euro in einen Topf einzahlen müssen, der am Ende des Jahres symbolisch einem wohltätigen Zweck zukommt. So repressiv dieses Vorgehen auch wirken mag, könnte es doch das Bewusstsein für die gute journalistische Sache schärfen.

Erschienen in Ausgabe 06/2010 in der Rubrik „Special“ auf Seite 52 bis 53 Autor/en: Leif Kramp und Theo Dersjant. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.