„Man macht sich überprüfbar“

Was reizt Sie als Politikwissenschaftler, Journalist, Medienpädagoge und Nicht-Informatiker am Datenjournalismus?

Lorenz Matzat: Er bietet mir eine Nische, die meine Politik- und Technikinteressen vereint. Die interessantesten Themen sind oft politische Vorgänge, die in großen Datensätzen verborgen und dort schön herauszuschälen sind.

Infografiken gibt es im Journalismus schon seit Jahrzehnten. Warum heißt das jetzt Datenjournalismus und was ist neu daran?

Datenjournalismus, wie wir ihn heute verstehen, hat immer etwas mit dem Internet zu tun. Es gibt einen alten Datenjournalismus – beispielsweise den Wetterbericht. Der neue Datenjournalismus liegt in der Schnittmenge von drei Bereichen: erstens visueller Journalismus oder Infografiken, zweitens multimediales und interaktives Storytelling und drittens investigativer Journalismus. Es ist ein neues Genre, das sich auch aus anderen Bereichen nährt und das Neue daran ist, Datensätze zum Gegenstand des Berichts und zu einer nützlichen interaktiven Rechercheumgebung zu machen. Bislang sind Datensätze oft als Beiwerk oder Unterstützung gesehen worden, jetzt ist der Datensatz an sich der Gegenstand der Berichterstattung. Wikileaks ist dafür das beste Beispiel.

Gibt es nicht auch einen vierten Bereich? Das Zurverfügungstellen von Rohdaten?

Den Datensatz zu veröffentlichen zeichnet auf jeden Fall richtigen Datenjournalismus aus. Das ist auch das Paradigma, das vielen Journalisten Bauchschmerzen bereitet – die Offenlegung von Quellen, die man bislang gehütet hat. Man macht sich dadurch überprüfbar. Das ist bei Open Data – beim Veröffentlichen von Datensätzen aus der Verwaltung oder Wissenseinrichtungen – das grundlegende Problem: Die Leute müssen sich daran gewöhnen, sich in die Karten schauen zu lassen.

Ist es in Deutschland aufgrund strengerer Datenschutzbestimmungen generell schwieriger als in den USA, an Daten heranzukommen?

Auf jeden Fall. Das hat politische und historische Ursachen. Es gibt in den USA seit über 100 Jahren das Amt des „public printer“, er ist dafür verantwortlich, die Vorgänge aus den Verwaltungen zu publizieren, mittlerweile auch digital. In den USA sind Datenbestände in der „public domain“, also gemeinfrei. Die Fotos der NASA gehören allen. Hier ist es umgekehrt: Alles, was nicht explizit anders gekennzeichnet wird, ist unter Verschluss. Das deutsche Recht kennt zwar auch gemeinfreie Gesetzestexte, aber ein Verlag kann die Druckrechte erwerben und dann gibt es ungeklärte Unschärfen. Nach dem deutschen Informationsfreiheitsgesetz muss ein berechtigtes öffentliches Interesse nachgewiesen werden, und da wird je nach Behörde anders gehandelt. Problematisch ist vor allem die Kostenfrage, die Gebühren sind teilweise dreistellig.

Welche Institutionen stellen ihre Daten zur Verfügung?

Manche kommunalen Verwaltungen teilweise sogar schon auf weiterverwertbarer Basis. Auf EU-Ebene gibt es tolle Datensätze von Eurostat, ebenso beim Statistischen Bundesamt. Bei anderen Behörden kommt man zwar an die Daten, sie müssen aber noch in eine maschinell verwertbare Form gebracht, also in Excel-Tabellen umgeschrieben werden.

Braucht man Teams, um Datenjournalismus zu betreiben?

Der „Guardian“ und die „New York Times“, die das Thema weltweit am stärksten vorantreiben und zeigen, wie es gehen kann, arbeiten in Teams. Ein Journalist alleine kann große Datensätze nicht sinnvoll bewältigen. Es braucht immer Leute, die aus verschiedenen Professionen mit verschiedenen Kompetenzen herangehen, um ein wirklich verwertbares Produkt herzustellen. Diese beiden Medien verknüpfen Datenjournalismus mit traditioneller Berichterstattung und überlassen es dem Leser, was er interessanter findet: eine interaktive Anwendung oder die Geschichten, die daraus entstanden sind und zurückverweisen auf eine Originaldepesche.

Sollten Journalisten programmieren können, um Datenjournalismus zu betreiben?

Sie sollten mit jemandem zusammenarbeiten, der es kann. Sie sollten wissen, was möglich ist bei Programmierungen, wen man damit beauftragen kann, wie lange das dauert und ob es mit einem sinnvollen Aufwand umzusetzen ist. Ich habe neulich für einige Journalisten einen Wochenend-Programmierkurs organisiert. Das hat gut funktioniert. Da waren Leute dabei, die noch nie die Kommandozeile ihres Rechners gesehen haben. Die konnten am Ende des zweiten Tages zumindest Daten automatisiert aus einer Seite auslesen. Das ist nicht wirklich schwierig. Journalisten müssen nicht programmieren können. Aber sie sollten auf jeden Fall Excel beherrschen.

Welche deutschen Medien haben bereits Potenziale erkannt?

Ich habe bislang vier Zeitungen im Onlinebereich gesehen, die mit Recherche experimentieren: „Spiegel Online“, „Zeit Online“, „taz online“ und „Welt Online“. Wobei es fließende Übergänge gibt zu Infografiken, interaktiven Geschichten und multimedialen Erzählformaten. Ich erwarte für 2011, dass Datenjournalismus wichtiger wird, weil wir in nächster Zeit sicherlich mehr große Datensätze sehen werden.

Interviewpartner

Lorenz Matzat arbeitet seit seinem Volontariat bei einer Berliner Tageszeitung als freier Journalist in Berlin. Er ist in der politischen Bildung und als Medienpädagoge (game-based-learning) tätig. Im Herbst 2009 gründete er den Open Data Network e.V. mit. Matzat bloggt unter www.datenjournalist.de zu neuen Journalismusformen sowie zu Open Data für „Zeit Online“: http://blog.zeit.de/open-data Er bietet Trainings und Seminare rund um Datenrecherche, Visualisierung und Programmieren für Journalisten und Redakteure an:

www.datenjournalist.de/training-workshops

Link:tipps

Todesopfer rechter Gewalt („Zeit Online“):

www.zeit.de/themen/gesellschaft/todesopfer-rechter-gewalt/index

Open-Data-Blog („taz online“): http://blogs.taz.de/open-data/

Einführung in Datenjournalismus (Präsentation von Lorenz Matzat): www.slideshare.net/wir_sie/einfhrung-in-datenjournalismus-data-driven-journalism

Manifest von Adrian Holovaty: „A fundamental way newspaper sites need to change“: www.holovaty.com/writing/ fundamental-change/

Wer tiefer in das Thema einsteigen will, findet bei Delicious eine Fülle von Links (Bookmarks von Ulrike Langer): www.delicious.com/mauisurfer/datenjournalismus

Hans Rosling’s 200 Countries, 200 Years, 4 Minutes – The Joy of Stats: http://bit.ly/foLaSC

Buchtipp:

Der opulente Bildband des Londoner Datendesigners David McCandless macht Lust auf Datenvisualisierung: „Information is Beautiful“ (Collins 2010), 256 Seiten, 15,95 EUR. www.informationisbeautiful.net

Medium:online

Das vollständige E-Mail-Interview mit „Zeit Online“-Entwicklungsredakteur Sascha Venohr ist herunterladbar unter www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 01+02/2011 in der Rubrik „Special“ auf Seite 43 bis 45. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.