Sarrazin, Sex-Täter & ein Schmetterling

We Gauck

„Yes We Gauck“: eine vergessene Schlagzeile der BamS, als im Juni eine überraschende Bundespräsidentenwahl anstand, die überraschend spannend verlief, auch dank des Wechselspiels von Twitter und TV. Eine Neuwahl, die nötig geworden war, weil Amtsinhaber Horst Köhler irgendwas mit Medien mitverursacht hatte: Schuld war entweder der Deutschlandradio-Reporter, dessen auf dem Rückflug von Afghanistan geführtes Köhler-Interview in zwei unterschiedlichen Fassungen gesendet worden war. Oder der Blogger, der das bemerkte und damit laut ZDF zumindest „mitverantwortlich für das Schicksal Horst Köhlers“ war. Oder halt doch der „Spiegel“ (Artikelüberschrift „Horst Lübke“), der dann auch beim allgemeinen Gauck-Promoten vorn dabei war („Der bessere Präsident“).

Mal ehrlich: Dass der Rücktrittsgrund bis heute einigermaßen erratisch blieb, ist in einem Jahr, in dem Phänomene wie Google Street View, Facebook und Wikileaks die totale Transparenz gegenüber dem Datenschutz ins Übergewicht gebracht haben, auch ganz schön.

Sarrazin

Erfolgreicher als im Falle Gauck war die „Spiegel“-Promotion im Falle von Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“: Die Hamburger veröffentlichten einen Vorabdruck des aktuellen Bestsellers dieses Jahrtausends. Das Buch erschien übrigens bei Bertelsmann, dem mittelbar „Spiegel“-Anteile gehören; manchmal muss das erwähnt werden. Der Vorabdruck heizte die Aufmerksamkeit auf die Präsentation derart an, dass Hunderte Berichterstatter in die Bundespressekonferenz kamen. „Ist ein Atomkraftwerk in die Luft geflogen?“, wunderte sich Evelyn Roll (SZ) über das aufmerksamkeitsökonomische Kalkül. Aber sie schrieb halt auch 741 Wörter über Sarrazin. Dass da jemand, der sich aufs politische Provozieren versteht, seine Erfahrungen für den Übergang ins Pensionsalter verwerten will, war vielen Berichterstattern klar. Und viele Medien wollten mitverwerten.

Und das taten sie: Es gab also haufenweise Artikel, analytisch waren die wenigsten. Jede öffentlich-rechtliche Fernsehtalkshow lud Sarrazin ein und, sicherheitshalber, eine repräsentative Mehrzahl an potenziellen Gegnern seiner Thesen. Die debattierten dann jeweils lautstark durcheinander, was verhinderte, dass überhaupt irgendjemand als Gewinner dastand. Oder als Verlierer. Und dass Sarrazin kein rhetorisches Talent ist, fiel so auch kaum auf.

Eine Maischberger-Talkshow war allen Ernstes dem Erscheinen von Sarrazins Buch 100 Tage zuvor gewidmet. Damit lief sich das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen wohl schon einmal warm für den Herbst 2011, wenn dank der jüngsten ARD-„Programmreform“ statt TV-Dokumentationen noch mehr Talk im TV Platz bekommt. Damit nur ja keiner der aktiven Talker auf eine einzige Minute pro Woche verzichten muss, wenn der 10-Millionen-Euro-Einkauf Günther Jauch im Herbst seinen Dienst antritt.

Lena

Einen Erfolg für die ARD gab’s auch, auch wenn wohl der Sender selbst nicht damit gerechnet hatte: Lena Meyer-Landrut (LMR) gewann tatsächlich den „Eurovision Song Contest“. Das Rezept für den Sendungserfolg war im Übrigen genau das gleiche, das auch erlaubt, dass Günther Jauch bei RTL weiterquizzt und nebenher den ARD-„Sonntagstalk“ übernimmt: Ganz pragmatisch wird jetzt halt doch mit dem Privatfernsehen geteilt, die Unterschiede schwinden sowieso immer mehr, wie man an den Trash-Shows in Anlehnung an RTLs „Die 10 besten“-Format sehen kann. Und so konnte also das Joint Venture von ProSieben und ARD das Phänomen LMR hervorbringen. Dem Charme des Wettbewerbs (und der ihm vorausgehenden Vorrunden) erlagen eine breite Koalition von Medien aller Art: Da waren die öffentlich-rechtlichen Recycle-Shows, Raabs routinierte Sendezeit-Füllerei bis hin zu Niggemeiers und Lukas Heinsers „Oslog.tv“. Letzteres dürfte im Übrigen eines der raren Projekte sein, das 2010 ein wenig kommerziell funktioniert haben dürfte. Und weil alle nach dem Sieg so erfolgstrunken waren, ließen sich die ARD-Bosse tatsächlich auf Raabs Schnapsidee ein, den Wettbewerbs-Charme 2011 von vornherein auszuschalten und LMR als „Titelverteidigerin“ antreten zu lassen. Programmdirektor Volker Herres lässt sich inzwischen mit der Äußerung zitieren, nichts würde ihn „mehr erschrecken“ als Feuilletonlob.

Die Guttenbergs

Die bei Weitem umfassendste Medien-Strategie tüftelte 2010 unbestritten das Ehepaar von und zu Guttenberg aus. Das Image-Konzept gipfelte Ende des Jahres darin, die blonde Bismarck-Ururenkelin als Weihnachtsgeschenk zur Aufmunterung der Truppen mit nach Afghanistan zu nehmen. Und das Ganze in Begleitung von Johannes B. Kerner, eine Show vor Ort inklusive. Kerner kann’s brauchen.

Überhaupt war Stephanie Freifrau von und zu Guttenberg seit Oktober gefühlt nonstop auf Sendung. Sie exponierte sich als Aushängeschild des Schmuddelsenders RTL2, der die Show „Tatort Internet“ im Oktober just dann ins Programm hob, als die gedruckten Boulevardblätter „Bild“ („Neue TV-Reihe entlarvt feige Kinderschänder“) und „Stern“ sie gleichzeitig mit Titelstorys flankierten. Ihr TV-Debüt war derart überstürzt, dass der Sender die für den späteren Abend gewohnt aufreizend angekündigte „Reportage“ mit dem Titel „Grenzenlos geil! Deutschlands Sexsüchtige packen aus“ notgedrungen schnell noch aus dem Programm kippen musste.

Der lobenswerte Ansatz, Kindesmissbrauch im Internet zu thematisieren, der zweifelhafte Ansatz, Lockvögel mit versteckten Kameras loszuschicken und Verdächtige durch Gesichtsverpixelung mehr oder weniger unkenntlich zu machen, das unseriöse Programmumfeld – viel Stoff für Diskussionen. Und dann kündigten Stephanie und ihr Verein „Innocence in Danger“ im November auch noch an, gegen das Haus M. DuMont Schauberg (MDS) vorzugehen. Nicht, weil ihnen dort Unschuld in Gefahr schien, sondern weil sie in kritischen Artikeln der MDS-Zeitung „Frankfurter Rundschau“ eine „Medienkampagne“ witterten. Egal was passierte, die Guttenbergs profitierten. Spätestens nachdem KT Coverstar des „Focus“ („Kanzler in Reserve“) und, diesmal mit Gattin, des „Spiegels“ („Die fabelhaften Guttenbergs: Paarlauf ins Kanzleramt“) wurde, war klar, was der für Jugendschutz zuständige bayerische Medienwächter Wolf-Dieter Ring der Ehefrau des vielleicht allerersten CSU-Bundeskanzlers mitzuteilen haben würde: dass „Tatort Internet“ in puncto Jugendschutz nichts vorzuwerfen sei. Zufälligerweise punktgenau vor der Ausstrahlung der letzten Folge verkündet. Dass den ersten Folgen in puncto Persönlichkeitsrechte doch etwas vorzuwerfen sei, teilten die Medienwächter dann erst nach Ausstrahlung der letzten Folge mit. Ob es eine zweite Staffel gibt, und, wenn ja, wieder mit Freifrau von und zu Guttenberg, ist noch offen. Das hängt wohl vom Karriereplan des kanzlerablen KT ab.

Never-ending Neven

Konstantin Neven DuMont, Verlagsadel, ist nur zwei Jahre älter als Karl-Theodor und hat auch Ambitionen. Seine Karriere liegt jedoch jetzt erst einmal auf Eis. Am Schluss wurde er sogar rausgeschmissen, sein Vorstandsposten im Kölner Verlag: futsch. „Die Angelegenheit wird sich noch über viele Jahre hinziehen“, versprach Konstantin Neven DuMont (KND) per Twitter, als er am 10. November, dem Vortag seines 41. Geburtstags, nominell noch der Erbe der Verlagsgruppe M. DuMont Schauberg (MDS) war.

Anfang des Jahres war KND noch ein Medienlandschaftskennern halbwegs bekannter, „manchmal schnöseliger“ (taz) Verlegersohn. Seine gelegentlichen Artikel zur Lage der Branche waren in ihrer Herausforderung/Chance-Rhetorik kaum aufgefallen. Lediglich als sich KND Ende 2009 in den Kommentarspalten d
er Seite von Medienblogger Stefan Niggemeier, na ja, ausgetobt hatte. Als Niggemeier dann aber im Herbst publik machte, dass jemand mit KNDs IP-Adresse unter „verschiedenen Identitäten“ viele „teils irre Kommentare“ abgegeben habe, eskalierte die Sache. Ob es wirklich KND selber war oder doch „zwei Personen, die meine Rechner mitnutzen“, wie er sagte, ist unklar.

Es folgte ein beispielloser Absturz KNDs (als Erbe) und sein gleichzeitiger Aufstieg (als Medienprominenter). Das Schlagwort „Konstantingate“ war verbraucht, bevor die Sache richtig Fahrt aufgenommen hatte. Es gab alles, von Homestorys wie in FAZ und „Spiegel“ („Er schlurft in Sandalen zur Tür“) über Verlegerporträts wie in der „Zeit“ (Er sei ein „Schmetterling“, wird ein Vertrauter zitiert.) bis hin zu „Bild“-Interviews oder seltsam aus der Zeit gefallene Telefoninterviews bei 3sat-„Kulturzeit“. Die KND-Story wurde als „Saga“ und „Sturm im Wasserglas“ (taz) eingestuft, als „grimmiges Bauerntheater“ (WamS), „rheinisches Possenspiel“, das aber auch „Züge einer Tragödie trägt“ („Stuttgarter Zeitung“); „Die Buddenbrooks, gespielt von der Augsburger Puppenkiste“, sagte ein ungenannter MDS-Mitarbeiter zu „Spiegel Online“.

Kam gerade mal kein Konstantin-Content nach, geriet das zunächst traditionell wortkarge Familienunternehmen MDS in Rage. Sobald Dynastiepatriarch Alfred Neven DuMont in einer „Depesche“ gegen den Sohn gesprochen hatte, mussten oder konnten sonstige Amtsträger auch nicht mehr schweigen. Den Springer-Verlag einer Kampagne zu bezichtigen, nachdem KND der Kölner „Bild“ ein Interview gegeben hatte („Es gibt in Köln neben unserem Verlag ja keine anderen unabhängigen Tageszeitungen.“), wirkte derart unbeholfen, dass sich sogar Niggemeier – bekannt geworden einst als „Bild“-Blogger – mit Springer solidarisieren musste („Kommunizieren wie Nordkorea“). KND war da via Twitter und Facebook versierter. Nicht nur einmal erwies er sich als Meister der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen. Kurz bevor und nachdem kress.de an jenem 10. November gemeldet hatte, KND sei „seiner Aufgaben entbunden“, verbreiteten sich ebenso lauffeuerartig seine schon legendären Tweets: „Juhu, heute beginnt mein Urlaub. Das Leben ist schön“ und „Diese Meldungen stimmen nicht. Ich bleibe Vorstand und Herausgeber“.

Sicher, was KND äußert, klingt oft nach „unsortiertem Monolog“ (Niggemeier) – aber sortierte Monologe von Medienmanagern gibt es ja nun wahrlich genug. In einem Gastbeitrag zum zehnjährigen Bestehen der Online-Medienkolumne „Altpapier“ [Disclaimer: für die der Verfasser dieses Textes ebenfalls arbeitet] schrieb KND: „Das Wichtigste bleibt, im Einklang mit den anderen und mit der Natur zu leben“. Klingt ungewohnt. Aber ist ja nicht falsch. Vielleicht entwickeln hartgesottene Protagonisten der Digitalära zum Ausgleich notgedrungen kindliche Seiten. Über Niggemeiers regelmäßige Blogbeiträge „Flausch am Sonntag“ wundert sich ja offensichtlich auch keiner.

Wikileaks

Er habe auf Fotos etwas „Prinzenhaftes“, schrieb die FAZ über KND. Dieses Schicksal verbindet „Sohni“ (taz) mit einem anderen Mann um die 40, der dieses Medienjahr prägte wie kein Zweiter. Und noch mehr, beide erinnern an verlorene Engel, die sich mit ihren kleinen Communitys zerstritten haben und dennoch ganz große Gegner angreifen: ihren Vater oder die Vereinigten Staaten von Amerika. Wie genau Wikileaks-Chef Julian Assange, 39, den Medienkosmos umgestaltet haben wird, müssen Historiker in ein paar Jahren beurteilen. Dann wird auch klar sein, ob ungelöschte Klarnamen in den Afghanistan-Protokollen wirklich keine Menschenleben gekostet haben. Vielleicht wird Assange tatsächlich „die mediale Rangordnung“ in dem Sinne „umgekehrt“ haben, dass „New York Times“, „Spiegel“ und Co. nur mehr „investigative Produkte Dritter“ drucken, anstatt selbst investigativen Journalismus zu betreiben („Neue Zürcher Zeitung“). Dass man sich mindestens auf Augenhöhe befindet, rutschte Chefredakteur Georg Mascolo schon im FAZ-Interview heraus („Es gibt die Diskussion, wie Wikileaks die klassischen Medien verändert, mindestens so berechtigt ist die Frage, wie die Medien Wikileaks verändern.“). Und Assanges Rezept, bis dato geheime Informationen aller Art zur Vorabauswertung an ausgewählte klassische Medien zu geben, hat Wikileaks jedenfalls bombastische Aufmerksamkeit beschert. Spätestens mit seinem dritten Wikileaks-Titel 2010 („Enthüllt – Wie Amerika die Welt sieht“) hatte aber auch der „Spiegel“ etwas davon. Und zwar gleich zwei Erfolgserlebnisse: Vielerorts war die Ausgabe am zweiten Tag nach Erscheinen ausverkauft; und wegen der großen Nachfrage musste man das Heft nachdrucken, das war seit 1995 nicht mehr nötig gewesen. Und alles ganz ohne draufgeklebte DVD. Selbst Hardcore-Blogger mussten zugeben, dass „Totholz“, also bedrucktes Papier, 2010 auf einmal nicht mehr so sehr dem Untergang geweiht schien wie noch im Jahr zuvor. Kein so schlechtes Zeichen.

Erschienen in Ausgabe 01+02/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 34 bis 37 Autor/en: Christian Bartels. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.