„Jetzt bitte selbst denken!“

Neil Postman machte 1986 Furore mit seiner medienkritischen These: „Wir amüsieren uns zu Tode.“ Hat er recht behalten?

Sebastian Turner: Jein. Wir sind noch am Leben, aber das Fernsehen ist vor allem ein Unterhaltungsmedium geworden und eine beunruhigend große Gruppe sucht nicht nach Information und wird auch nicht auf sie stoßen.

Und wer war da Henne und wer das Ei?

Die meisten sind Getriebene ihrer Rahmenbedingungen, nur wenigen ist es gegeben, sie zu verändern.

Postman prognostizierte damals den Computer als großen Verbündeten der Lesekultur, wenn wir Programmieren lernten und nicht nur „PacMan“ spielten. Heute können nur wenige programmieren und Facebook, Google & Co. graben den klassischen Medien das Wasser ab. Was ist falsch gelaufen?

Man kann Postman zu seinem prophetischen Sinn gratulieren. Das Internet nennt er zwar nicht beim Namen, aber sein Instinkt hat ihn auf die richtige Spur geführt. Der Computer – gemeint: die Vernetzung und die sich daraus ergebende Ubiquität von Information – ist weit mehr Lesemedium als PacMan. Und Facebook und Google vernetzen und verschaffen Zugang, wie sich 1986 das wohl nur sehr wenige haben vorstellen können. Also: Vieles ist sehr richtig gelaufen, nur die Verleger laufen bisweilen hinterher.

Gleichzeitig bringen die Verlage aber laufend neue Titel auf den Markt. Was sind in Ihren Augen wirklich Innovationen?

Wenn ich mich für ein mathematisches Spezialgebiet interessiere, dann sind 500 mathematische Fachzeitschriften nicht eine einzige zu viel. Ich weiß nicht, ob man Schulnoten vergeben sollte, und ob „Landlust“ dann eine bessere Zensur bekommt als „Cicero“ oder Tinabellatrulla oder die FAS. Die Menschen unterscheiden sich, und deswegen auch die Einschätzung von Innovationen. Reizvoll finde ich auch Neues, das eingeführte Medienmarken hervorbringen, etwa die Infografik in der „Zeit“. Eine Innovation kann man auch nach ihrem wirtschaftlichen Wert bemessen. Wer das allerdings zum alleinigen Maßstab macht, sollte sich fragen, warum er seine Zeit in den Medien vertut und nicht lieber eine Landesbank ruiniert. Da geht es um mehr Nullen, in jeder Hinsicht.

Sind Sie eigentlich bereit, für journalistische Inhalte im Internet Geld auszugeben?

Ich habe einmal für die „Netzeitung“ einige Monate lang eine Abonnementgebühr bezahlt, aber vor allem, weil die Mutter einer Mitarbeiterin mich so freundlich darum gebeten hatte. Ich war wahrscheinlich der einzige Abonnent. Wenn ich mir vor Augen führe, wie bereitwillig ich für bedrucktes Papier – ob Zeitung oder Buch – Geld ausgebe und wie geizig ich im Netz bin, wundere ich mich über meine eigene Widersprüchlichkeit. Vermutlich würde ich Geld für das geben, für das andere auch Geld geben. Und weil ich annehme, dass das nirgends der Fall ist, sage ich mir: Ich bin hier doch nicht der einzige Doofe, der zahlt, wenn alle anderen umsonst ins Kino kommen.

Sehen Sie denn trotzdem eine Chance, Bezahlmodelle für journalistische Inhalte durchzusetzen, wie es sich so viele Verleger mit dem iPad erhoffen? Oder müssen auch wir, die Journalisten, uns was anderes einfallen lassen, um noch von unserem Beruf leben zu können?

Sich was anderes einfallen zu lassen ist immer richtig. Man darf nicht vergessen, dass nahezu alle Medien außer Büchern neben dem Verkaufserlös auch mittelbare Finanzierungen kennen, Privat-TV und Anzeigenblätter sogar nur die indirekte Finanzierung über den Werbemarkt. Neu und noch kaum erschlossen ist die Finanzierung über Transaktionen und Provisionen: Bisher nimmt der Verlag einen Festpreis für eine Anzeigenfläche, ganz gleich ob sich das Kotelett verkauft oder nicht. Google – wieder Branchenfremde – haben den marktgerechteren Auktionspreis eingeführt – für das Suchwort „Kotelett“. Und als Nächstes kommt die Provision aufs Kotelett. Hier werden wir sicher noch interessante neue Ideen sehen.

Warum schaffen es die deutschen Medienhäuser mit ihren Managerstäben und Entwicklungsredaktionen nicht, online erfolgreich zu sein? Fehlt es ihnen an Garagen-Geist?

Wahrscheinlich haben sie schon alle eine Garage oder wenigstens einen Carport – und deswegen möchten sie den relativen Wohlstand nicht mit Experimenten gefährden. Ein wichtiger Grund könnte auch sein, dass bei uns Inhalte-Leidenschaft und Informatik nicht zusammenfinden. Die Informatiker interessieren sich nicht für die Inhalte und die Journalisten sind Journalisten geworden, weil sie mit Geld und Schraubenziehern nichts zu tun haben wollten. Schließlich ist die Profitcenterparzellierung auch ein Grund. In jedem Unternehmen findet sich jemand, der bei einer Innovation ruft: Das kostet mich Geschäft. Wenn er nur laut und alle anderen dumm genug sind, überlässt man so alle Wachstumsmärkte dem neu aufkeimenden Wettbewerb. Die zentrale, unbequeme Wahrheit heißt: Der Kannibale gehört zur Familie. Ich habe in einem Fall aus nächster Nähe miterlebt, wie ein Marktführer sich selbst gefesselt und dann anderen zum Fraß vorgeworfen hat.

Sie selbst sind als Journalist gestartet – dann aber Werber, also Kreativer, geworden. Warum haben Sie die Seiten gewechselt? Und was können Journalisten von Werbern lernen?

Bitte fallen Sie nicht auf einen Begriffstrick der Werbebranche herein. Nur weil hier die Kreativen auch Kreative heißen, bedeutet das nicht, dass es nicht woanders auch welche gibt. Alle guten Journalisten, Lehrer, Staubsaugerverkäufer, Landtagsabgeordnete und Wissenschaftler sind auch Kreative – weil es alle Menschen sind. Ich bin also nur im kreativen Zoo von einem Gehege in ein anderes gewechselt. Der Anlass war der Fall der Mauer. Ich wollte in die frisch selbstbefreite DDR und ich wollte mich selbstständig machen, ohne Geld und ohne Berufserfahrung. Die Gründung einer Zeitung war wirtschaftlich nicht möglich direkt nach dem Examen. Also wurde es eine Werbeagentur. Dort braucht man gar kein Startkapital, wenn man sich selbst nur so viel Gehalt zahlt, wie eben hereinkommt.

Was verstehen Sie eigentlich unter kreativem Journalismus?

Kreativer Journalismus ist ein Pleonasmus, ein weißer Schimmel. Einfallsreichtum in Thema, Form, Stil, Zugang – das ist kreativ und gut. Bei der Förderung der Kreativität ist schon erstaunlich viel erreicht, wenn man sie nicht unterdrückt. Jede Menge Kreativität steckt in jedem Kind und Restbestände finden sich in jedem Erwachsenen. Schiller, der Kreative, sagt so ungefähr: der Mensch ist Mensch, wenn er spielt. Spielerisch, unbefangen, neugierig – das muss man sich erhalten. Der Preis ist, dass man gelegentlich naiv und unbedarft erscheint. Daran kann man sich aber gewöhnen.

In den Redaktionen, so wird überall geklagt, bleibt aber in der Tagesroutine kaum noch Raum für „Spielereien“. Welchen Trick wenden Sie an, um Routine zugunsten kreativer Ideen zu brechen?

Es geht nicht um Spielereien, sondern um den spielerischen Um- und Zugang zu Fragen. Das ist eine Frage der Einstellung. Und die kostet keine Zeit, sondern schafft sie.

Sie haben Mitte April beim „tazlab“ Axel Springers Weitsicht gelobt, sich mit „Hörzu“ am damals wachsenden Erfolg des Fernsehens beteiligt zu haben. Was würden Sie heute unternehmen, wenn Sie Verleger oder Journalist wären?

Ich würde mir die Frage stellen, welche Bedürfnisse in hergebrachten Medien nur deswegen nicht befriedigt werden, weil es aus technischen Gründen nicht geht, wohl aber in digitalen Medien. Ein Beispiel: Was könnte die Handwerker-Anzeige „Mauertrockenlegung vom Fachmann“ leisten, wenn der Maurerkunde sich was wünsche dürfte? Sie würde verraten, wie zufrieden seine Kunden sind; sie würde mir sagen, ob der Anbieter mehr oder weniger kostet als andere, und sie würde sagen, bis wann der Maurer meinen Auftrag erledigen kann. Alles ohne Kosten für mich als Auftraggeber. Genau
das kann zum Beispiel das Internetportal „MyHammer“. So, jetzt bitte selbst denken: Was würde ein Bericht über den Gemeinderat und den Lieblings-Sportverein können, wenn der Leser sich was wünschen dürfte? Das sollten Medienunternehmer – ob Verleger oder Journalisten – beantworten und umsetzen.

Erschienen in Ausgabe 04+05/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 12 bis 12 Autor/en: Interview: Thomas Strothjohann. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.