Sicher ist die Empörung, die Mitte Mai rund um die Verleihung und Aberkennung des Henri-Nannen-Preises an den �Spiegel�-Redakteur René Pfister ausgebrochen ist, ein Beleg dafür, wie sehr sich Print-Journalisten um die Glaubwürdigkeit von gedruckten Texten sorgen. Vielleicht aber, so ein Verdacht, der einen beschleichen konnte in jenen Tagen, ging es so manchem Kritiker doch eher darum, der Empörung Luft zu machen: darüber, dass wieder einmal der Falsche gewonnen hatte.
Wie dem auch sei, René Pfisters Text wird fortan durch Redaktionen und Journalistenschulen geistern wie kaum ein ausgezeichneter Text zuvor. Es lohnt sich daher, noch einmal einen analytischen Blick auf den Text zu werfen. Den Kritikern geht es interessanterweise nahezu ausschließlich um die ersten drei Absätze der Reportage �Am Stellpult�, erschienen in der �Spiegel�-Ausgabe 33/2010:
Ein paarmal im Jahr steigt Horst Seehofer in den Keller seines Ferienhauses in Schamhaupten, Weihnachten und Ostern, auch jetzt im Sommer, wenn er ein paar Tage frei hat. Dort unten steht seine Eisenbahn, es ist eine Märklin H0 im Maßstab 1:87, er baut seit Jahren daran. Die Eisenbahn ist ein Modell von Seehofers Leben.
Es gibt den Nachbau des Bahnhofs von Bonn, der Stadt, in der Seehofers Karriere begann. Nach dem Jahr 2004, als er wegen des Streits um die Gesundheitspolitik sein wichtigstes Amt verlor, baute er einen, Schattenbahnhof�, so nennt er ihn, ein Gleis, das hinab ins Dunkel führt.
Seit neuestem hat auch Angela Merkel einen Platz in Seehofers Keller. Er hat lange überlegt, wohin er die Kanzlerin stellen soll. Vor ein paar Monaten dann schnitt er ihr Porträtfoto aus und kopierte es klein, dann klebte er es auf eine Plastikfigur und setzte sie in eine Diesellok. Seither dreht auch die Kanzlerin auf Seehofers Eisenbahn ihre Runden.�
Schon der allererste Satz ist ein Beleg dafür, dass der Autor nicht vortäuscht, Zeuge einer singulären, exklusiv beobachteten Szene gewesen zu sein. Was sonst soll die Formulierung �ein paarmal im Jahr� dem Leser signalisieren, wenn nicht: regelmäßig und in privaten, unbeobachteten Momenten? Haben jene, die sich nun getäuscht wähnen, ernsthaft geglaubt, Pfister sei regelmäßig beim Eisenbahnspielen in Seehofers Keller gewesen? Im zweiten Satz steht: �auch jetzt im Sommer�, nicht: so auch an diesem Mittwoch im August. Der Autor schreibt ferner: �es gibt den Nachbau�, nicht: hat nachgebaut. Selbst die Szene mit der aufgeklebten Kanzlerin ist zeitlich vage: �vor ein paar Monaten�.
Vom Hörensagen
Doch angenommen, dieser Einstieg führte dennoch in die Irre. Angenommen, Pfister hätte, etwa in einem Nebensatz, schreiben müssen, woher seine Informationen stammen. Wieso stoßen sich alle nur an diesen drei Absätzen? Keiner erwähnt etwa Absatz 13:
Die beiden schlossen sich im Kloster Plankstetten ein und schrieben Tag und Nacht, für Seehofer war es wie eine Befreiung, er schrieb sich die Wut von der Seele.�
Auch das konnte René Pfister nur vom Hörensagen wissen. Schlimmer noch, im Sinne seiner Kritiker: Im Gegensatz zum Einstieg basiert diese szenische Beschreibung ausschließlich auf der Erzählung eines einzigen Beteiligten (Walter Eisenhart). Und was ist mit Absatz 21? Dort steht:
Die Ministerien wurden verteilt, und am Ende klingelte doch noch Haderthauers Handy. Seehofer bot ihr das Sozialministerium an, aber er fand kaum freundliche Worte:, Du warst schon unter der Erde, jetzt habe ich dich noch mal aus dem Sarg geholt�, sagte er.�
Hat René Pfister das Gespräch abgehört? Natürlich nicht. Es gibt einige Belegstellen dieser Art, und es gibt sie nicht nur in diesem Text. Sie kommen praktisch in jeder Reportage vor, die über das langweilige Format �24 Stunden mit der freiwilligen Feuerwehr� hinausgeht. Und kaum einer hätte sich je darüber beschwert.
Es ist sinnvoll, darüber zu diskutieren, wie man mit szenischen Rekonstruktionen umzugehen hat. Das tun im Übrigen auch die Dokumentarfilmer, die diese Technik �reenactment� nennen und ihre liebe Mühe haben mit Guido Knopp und Konsorten. Was aber außer dem, was René Pfister im konkreten Fall getan hat, wäre die Alternative? Wenn man seinen Worten glauben darf, die szenische Beschreibung beruhe auf Aussagen Seehofers, mehrerer Parteifreunde und Kollegen vom �Spiegel�, hat er so viel Sorgfalt walten lassen wie ein Gericht bei einem Indizien-Prozess.
Eine polemische Debatte
Wäre Pfisters Sorgfalt in den ersten Absätzen seines Texts nicht ausreichend, landete der Journalismus schnell bei der Verpflichtung, immer und überall Quellen zu benennen, was im Übrigen automatisch über szenische Rekonstruktionen hinausführen müsste. �Bei einer klassischen Reportage zählt nur das, was man selbst gesehen und gehört hat�, fordert etwa das �Hamburger Abendblatt�. Was nur neue Fragen aufwirft: Wann hört eine Reportage auf, �klassisch� zu sein? Und wieso sollte die Regel nur für Reportagen gelten?
Fakt ist übrigens, dass Leser Texte, die sich vorwiegend aufs Zitieren verlegen und narrative Eleganz missen lassen, viel schneller zur Seite legen. Ein Aspekt, der angesichts des offensichtlich sorgfältigen Reenactments in den ersten Absätzen René Pfisters durchaus berücksichtigt gehört. Seit einigen Jahren diskutieren Leserforscher und weltoffene Chefredakteure über die Bedeutung des �narrativen Journalismus� � eine Diskussion, der durch die aktuelle polemische Debatte ein schwerer Rückschlag droht.
Was ist authentisch?
Es gibt einen weiteren, wichtigen Aspekt, der zu keinem Zeitpunkt debattiert wurde: Angenommen es stimmt, dass fünf bis sechs Personen unabhängig voneinander übereinstimmend über Seehofers Eisenbahnspiele berichtet haben. Und angenommen, Seehofer hätte René Pfister für ein Mal doch in seinen Keller gebeten, um ihm dort seine Eisenbahn vorzuführen. Hätte dabei aber, weil er den �Spiegel� als kritisches Medium kennt, sein Verhalten so gesteuert, dass der Besucher einen ganz bestimmten, gefärbten Eindruck erhalten hätte. Was und wie hätte Pfister dann schreiben sollen? Wieso wird in der Debatte um Pfister immer nur über Glaubwürdigkeit gesprochen, also darüber, ob Pfister Gast in Seehofers Keller war, nie aber über Authentizität? Könnte es sein, dass sich Journalisten mehr für das Zustandekommen eines Textes interessieren als für seine Wirkung? Könnte es sein, dass sie ihn auch als Leser falsch beurteilen, weil sie immer den schreibenden Kollegen assoziieren und weniger die Protagonisten eines Texts?
Es wäre schön, die Henri-Nannen-Jury bestünde vorwiegend aus Lesern statt aus Chefredakteuren und Berufsautoren. Das hätte dem Urteil und der anschließenden Debatte sicher gutgetan.
Tipp:
Journalisten-Werkstatt
Die Reportage�
Erschienen in Ausgabe 06/2011 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 46 bis 47 Autor/en: Peter Linden. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.