Darf man … vorverurteilen?

Von Stefan Niggemeier

Aber natürlich gilt die Unschuldsvermutung. Oder genauer: Aber natürlich gilt die Pflicht, zu betonen, dass eigentlich die Unschuldsvermutung gilt. Der Hinweis fehlt in kaum einem Artikel über Dominique Strauss-Kahn, den Ex-Chef des Internationalen Währungsfonds, der unter dem Verdacht, im New Yorker Sofitel-Hotel ein Zimmermädchen vergewaltigt zu haben, verhaftet wurde. Er hat längst eine ähnliche Wirkung entwickelt wie der Satz: �Ich habe nichts gegen Ausländer, aber �� Er bedeutet das Gegenteil dessen, was er zu bedeuten vorgibt. Teilweise wird er eingesetzt, als wäre er eine Lizenz dafür, sich dann umso hemmungsloser auszumalen, was dieser Strauss-Kahn für ein Mensch ist, der so brutal über ein Zimmermädchen herfällt, was man ihm eigentlich auch immer schon zugetraut hatte.

So viel ist klar: Die Unschuldsvermutung mag für Strauss-Kahn � hoffentlich � in seinem Strafverfahren und dem Prozess gelten. Aber die große Mehrzahl der Journalisten und Experten hierzulande vermutet nicht, dass er unschuldig ist. Sie hält ihn für schuldig. Nicht unbedingt reflexartig, sondern auf der Grundlage dessen, was über ihn und seinen Umgang mit Frauen schon bekannt war. Aber macht es das besser? Wenn er sich nachweislich in der Vergangenheit übel an Frauen vergriffen hat, ist das trotzdem kein Beweis dafür, dass er jenes Zimmermädchen überfallen hat. Es ist im Grunde nicht einmal ein Indiz.

Beim �Spiegel� weiß man das auch und hat sich deshalb etwas Originelles ausgedacht. In der großen Titelgeschichte zum Thema schrieben die Autoren Ullrich Fichtner und Dirk Kurbjuweit, Strauss-Kahn sei � �unabhängig davon, ob ihm im Sofitel-Fall die Schuld nachgewiesen und er als Vergewaltiger wirklich verurteilt wird� � �irre�: Er glaube �machttrunken, die ungeschriebenen und auch die geschriebenen Gesetze� gälten nicht für ihn. Mindestens in einem nichtjuristischen Sinne erklären sie ihn also für schuldig. Und dann markieren sie mit Flatterband eine provisorische Linie: �Man muss diesen Angeklagten, der am Ende mutmaßlich zum Verbrecher wurde, aber bis zu einem Urteil natürlich als unschuldig zu gelten hat, trennen von dem Mann, der mit dem fragwürdigen Ruhm eines Schürzenjägers durch die Welt lief, eines geilen Bocks, dem Frauen immer wieder vorwarfen, sie bis an den Rand der Nötigung und darüber hinaus zu bedrängen, ohne damit weiter anzuecken, ohne aufzufliegen.� Deutlicher kann man kaum machen, dass man einen Mann für schuldig hält und nur pro forma darauf verweist, dass seine Schuld noch nicht erwiesen ist. Der �Spiegel� erwähnt, dass alle schlimmen Sachen über Strauss-Kahn nicht bedeuten, dass er das Zimmermädchen vergewaltigt hat, um dann mittels all jener schlimmen Sachen zu suggerieren, dass er das Zimmermädchen vergewaltigt hat. Fast wünscht man sich, sie würden dazu stehen und schreiben, was sie denken: Natürlich hat er�s getan.

Ähnlich verlogen ist das an vielen Stellen zu lesende Lamento, die Amerikaner würden durch ihren Umgang mit Strauss-Kahn die Unschuldsvermutung mit Füßen treten. Als barbarisch wird vor allem der �Prep-Walk� kritisiert, das öffentliche Vorführen eines Verdächtigen oder Angeklagten in der Pose eines gefassten Verbrechers: mit Handschellen, im festen Griff von Polizisten. Diesen Bildern wird eine geradezu mythische Wirkung bei der Zerstörung von Existenzen zugeschrieben. Auch von den beiden �Spiegel�-Redakteuren, die sich lesbar bemühen, die größten denkbaren Superlative noch zu übertreffen: �Dominique Strauss-Kahn hat die [Gefängnis-]Insel überlebt, die dramatischen Bilder seiner Festnahme werden ihn überleben. (�) Die Bilder von ihm in Handschellen und die anderen, die ihn unrasiert, hilflos vor der Haftrichterin zeigten, löschten ihn aus als Figur der Macht, sie disqualifizierten ihn für jedes denkbare Amt, es waren Bilder, die Frankreich ins Herz trafen und Schockwellen in die ganze Welt sandten.�

Das ist, auch in weniger hysterischer Form, ein beliebtes Argumentationsmuster, auch in anderen Fällen wie dem Verfahren gegen Jörg Kachelmann. Aber stimmt es überhaupt? Sind solche Prominenten wirklich schon allein durch solche Fotos, unabhängig von einem möglichen Freispruch, für immer (und �für jedes denkbare Amt�) disqualifiziert? Und sind es wirklich die Bilder, die sie erledigen, oder vielleicht die Kommentatoren, die behaupten, nun seien sie erledigt?

Bezeichnenderweise tauchen in den Berichten darüber, wie Prominente als Verdächtige vorverurteilt werden, die Berichterstatter selbst fast nie als handelnde Personen auf. Die Medien tun so, als seien sie den Mechanismen � die sie beklagen, deren wichtigster Teil sie aber sind � machtlos ausgeliefert. Wenn wir den �Prep Walk� wirklich so abstoßend finden � warum zeigen wir die Bilder trotzdem? Sind wir verpflichtet, sie zu zeigen � nach der alten paradoxen �Bild�-Logik: �Diese schlimmen Fotos wollen wir nie wieder sehen!�? Haben sie einen Nachrichtenwert? Käme die Entscheidung, sie nicht zu zeigen, einer journalistischen Arbeitsverweigerung gleich?

Die Berichte über die Vorverurteilung von Strauss-Kahn wirken wie ein gewaltiger Zirkelschluss: Er wird vorverurteilt, weil alle ihn vorverurteilen. Eine self-fulfilling prophecy. Als wären die Medien dazu verdammt, einem brutalen Automatismus folgend jedes böse Spiel mitzuspielen und es bestenfalls zugleich als böses Spiel zu verurteilen.

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Erschienen in Ausgabe 06/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 65 bis 65. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.