Nicht weniger als eine Katastrophe

Das wäre der Lackmus-Test für Journalisten, die über die Griechenland-Krise schreiben: �Was glauben Sie, denkt ein durchschnittlicher Leser/Zuschauer/Zuhörer ihrer Publikation über folgende Fel-der: Wie lange arbeitet ein Grieche im Durchschnitt im Jahr im Verhältnis zu einem Deutschen? Wie sieht der Posten �Griechenlandhilfe� im Haushalt der Bundesregierung aus? Wie hoch war die Staatsquote in Griechenland vor der weltweiten Finanzkrise 2008?�

Die Antworten sind: Griechen arbeiten im Durchschnitt 50 Prozent mehr als Deutsche, und das bei längerer Lebensarbeitszeit. Der Bundeshaushalt hat über die Kreditanstalt für Wiederaufbau bisher gut 220 Millionen Euro durch die griechischen Zinszahlungen und Gebühren gewonnen, indirekt sind es über den Umweg der niedrigeren deutschen Zinsen wegen der Eurokrise mindestens 3,5 Milliarden. Und: Die Staatsquote des angeblich so aufgeblähten griechischen Staates lag vor der internationalen Finanzkrise vergleichbar mit der deutschen im EU-Mittelfeld.

Hätten Ihre Leser das gewusst? Man muss kein Prophet sein, um anzunehmen: Nein, im Gegenteil, jede dieser Tatsachen überrascht einen deutschen Zeitungsleser und Nachrichtenzuschauer, denn sie passt nicht in das Bild, das er von dieser Krise hat.

Es gibt eine große, übergreifende Erzählung über Griechenland in der Schuldenkrise, und diese Erzählung handelt von faulen, korrupten Griechen, die um �unsere� Hilfe betteln � und am Ende auch noch undankbar sind. Die Erzählung greift selbst auf der höchsten Ebene: Angela Merkel verkündete vor Parteifreunden im Sauerland (und vor den laufenden Mikrofonen der Weltpresse), es ginge �auch darum, dass man in Ländern wie Griechenland, Spanien, Portugal nicht früher in Rente gehen kann als in Deutschland, sondern dass alle sich auch ein wenig gleich anstrengen � das ist wichtig�. Auch dass einige mehr Urlaub machten als andere wäre problematisch. Dass in allen anderen Ländern mehr gearbeitet wird als in Deutschland, sowohl in Jahres- als auch in Lebensarbeitszeit, und dass man in Protugal, Spanien und Griechenland weniger Urlaub macht als in Deutschland, wusste sie nicht oder wollte es nicht wissen. Gegen rund 1.400 Jahresarbeitsstunden in Deutschland stehen rund 2.200 in Griechenland, aber in Deutschland denkt man tatsächlich, man wäre fleißiger.

Das ist ein Ergebnis falscher Informationen, und wenn man Medien als Mittler von Informationen ernst nimmt, dann ist das Ergebnis der Berichterstattung über Griechenland in den letzten 18 Monaten nicht weniger als eine Katastrophe.

Das Wabern der Mythen

Dabei ist es nicht so, dass Informationen unterdrückt würden: Mit Ausnahme der �Bild�-Zeitung, die von Anfang an eine konsequente Kampagne fährt, die selbst der ehemalige Chefredakteur der �Bild am Sonntag�, Michael Spreng, �an der Grenze der Volksverhetzung� sieht, lassen die meisten Medien die meisten Informationen irgendwann zumindest in ihrer Berichterstattung auftauchen. Den einfachen Lackmus-Test, den Reality-Check, überstehen sie trotzdem nicht. Denn immer dann, wenn die Materie ein bisschen komplexer wird, flüchten auch sie sich in die einfache Erklärung, Griechen wären faul und korrupt � und deshalb selber schuld. Die echte Erklärung, die Strukturprobleme des Euro beinhaltet, politische, historische und wirtschaftliche Details und jede Menge unerotischer Zahlen, bleibt dabei im Grunde unerwähnt: Man findet sie, wenn man als Leser oder Zuschauer weiß, wonach man suchen und worauf man achten muss, auf welche kleinen Nuggets innerhalb von Berichten, die immer wieder aus dem Strom der Erzählung vom faulen Griechen schöpfen.

Schon während ich das schreibe, höre ich vor meinem inneren Ohr die Einwände, die ich immer höre, wenn ich mit den echten Zahlen komme: Ja, aber Griechenland ist doch von Korruption und Vetternwirtschaft gebeutelt, hat doch �über seine Verhältnisse gelebt� und ist regiert von einer Kaste Politiker, denen persönlicher Vorteil vor dem Allgemeinwohl steht. Und das ist alles wahr � und wird übrigens nirgendwo schärfer kritisiert als in Griechenland, wo seit Jahr und Tag Demonstrationen und Streiks zum gesellschaftlichen Alltag gehören (�Jetzt streiken sie, dabei sollten sie doch sparen!�). Aber all das taugt selbst in dieser Konzentration kaum zur Erklärung der Krise. Erst recht nicht, wenn man weiß, dass Länder ohne Defizit wie Irland in ähnliche Probleme geraten, und Länder mit höheren Staatsschulden als Griechenland, wie Japan, nicht. Es erklärt auch nicht, warum die Berichterstattung in anderen Ländern, auch Euro-Ländern, bei weitem nicht die anklagende Schärfe erreicht, die in Deutschland der normale Ton geworden ist. Im Gegenteil: Auf dem arabischen Nachrichtensender Al-Jazeera lief Mitte Juni ein Bericht darüber, wie merkwürdig einfach es sich vor allem deutsche Journalisten machen, wenn sie über Griechenlands Schuldenkrise berichten. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wenn die Kanzlerin nicht mehr weiß, was die Fakten sind, dann ist die generelle Informationslage schlecht, und das nicht nur bei den Boulevardmedien � und das hat einen direkten Einfluss auf die Politik, die von der öffentlichen Meinung abhängig ist. In Bezug auf die erste große Krise des Euro wird die größte Volkswirtschaft Europas auf der Grundlage von Mythen regiert. Das ist nicht gut.

Die Griechen in uns

All das bedeutet nicht, dass Kritik an Griechenland unberechtigt ist. Im Gegenteil, es gibt unendlich viel zu kritisieren an der griechischen Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte. Interessanterweise wird die Stimme des griechischen Volkes in Deutschland allerdings gar nicht gehört. Der erste fundamentale Fehler war es sicher, �die Griechen� als eine Gruppe zusammenzufassen, in der Politik und Bevölkerung an einem Strang ziehen, um Europas reiche Nordländer auszunehmen.

Der zweite, �den Griechen� moralische Verdorbenheit zu unterstellen, denen Faulheit, Korruption und Betrug zur Natur geworden sind � was angesichts der Tatsache, dass sich in Griechenland in praktisch allen großen Korruptionsskandalen deutsche Firmen besonders hervortun, für Verbitterung und heftige, polemische Gegenwehr sorgt.

Und drittens ist offensichtlich, dass viele, wenn nicht die meisten Redaktionen überfordert sind mit der Einordnung der komplexen Informationen. So wird jede noch so grobe Schablone, die ein bisschen Übersicht verspricht, genutzt, um verständlich zu machen � selbst wenn das Ergebnis dann zwar verständlich, aber falsch ist.

Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel ist das regelmäßige Feuerwerk an Fehlinformationen, das jedes mal abbrennt, wenn eine der drei großen Ratingagenturen das sogenannte Credit-Rating für Griechenland ändert � seit Beginn der Krise regelmäßig nach unten, bis zur schlechtestmöglichen Bewertung vor einem tatsächlichen Ausfall Anfang Juni. Das Rating Griechenlands liegt damit unter dem Jamaikas, was die fantasievolleren unter den Kommentatoren tatsächlich bewogen hat, in Abhandlungen über die Wirtschaft Jamaikas zu philosophieren � immerhin ein Land, in dem jeder fünfte Erwachsene Analphabet ist.

Was nicht auftaucht, ist eine Erklärung, was sich denn geändert hat, das veranlasst, Griechenland weiter zurückzustufen. Es ist nämlich nicht die griechische Wirtschaft, die nach wie vor pro Kopf das fünffache des BIP von Jamaika ausweist. Es ist die Willenserklärung der tonangebenden Europa-Politiker Merkel und Sarkozy, eine �sanfte Umschuldung� zu versuchen, was nach Einschätzung der Rating-Agenturen wohl ein Kreditausfall ist. Das ist, zugegeben, die langweiligere Geschichte. Aber sie hat den Vorteil, dass sie den Tatsachen entspricht. Und sie wäre nicht schwierig zu entdecken: Es würde reichen, die Presseerklärungen der Rating-Agenturen einmal bis zum Ende durchzulesen � un
d verstehen zu wollen.

Griechenlandberichterstattung ohne Griechenland zu kennen, ohne den Stimmen des Volkes auf dem Syntagma-Platz Raum zu geben, ohne sich mit den wahren Zahlen auseinanderzusetzen und in den meisten Fällen, ohne überhaupt in Griechenland zu sein � das verhält sich zu Journalismus bei genauerer Betrachtung in etwa wie ein Event-Movie im Privatfernsehen zu geschichtlichen Ereignissen. Es ist �based on a true story� � aber nicht die wahre Geschichte selbst.

Erschienen in Ausgabe 07+08/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 26 bis 26 Autor/en: Michalis Pantelouris. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.