Rein in die Lücke!

Schulreform in Hamburg, Rauchverbot in Bayern, Stuttgart 21 und Berlin mit Flughäfen, Wasserversorgung und Religionsunterricht. Castortransporte, Atomausstieg, und, wenn man so will, der Putsch des Desinteresses gegen die Berufsarmee � die jüngsten sozialen Bewegungen zeigen eine neue gesellschaftliche Aufstellung: nicht mehr links gegen rechts, Sozis gegen Schwarze, Partei X mit ihrem Anhang gegen Partei Y und ihre Jünger.

Sondern: teils erfrischend ungekämmte Koalitionen von Bürgern gegen mehr oder minder große Koalitionen von Parteien. Viele Bürger sind sehr wohl politisch � und zugleich der Parteipolitik müde. Sie finden ihre Themen nah, nachvollziehbar, unideologisch.

Man kann offenbar gut für Atomkraft, gegen Bahnhof, für Eliteschulen und gegen Flughafen zugleich sein, zum Beispiel. Das punktuelle Engagement steigt � während die Wahlbeteiligung sank und sinkt.

Bei Wahlen würde ich lieber wie im �Wahlomaten� zwanzig, dreißig gesellschaftliche Sachfragen entscheiden und meine Abgeordneten festlegen und gegen Lobbyeinflüsse immunisieren. Das kann nicht komplizierter sein als das skurrile Spektakel des Kumulierens und Panaschierens, das in Hamburg zu drei Prozent ungültigen Wahlzetteln führte.

Verdruss und Verachtung

Die herkömmlichen Parteien zerreißen sich, solches Engagement abzubilden oder gar einzusammeln. Die Union nähert sich wöchentlichem Austausch ihrer Haltung zur Atomenergie, die gewaltfreien Grünen verkauften die Bundeswehr als bewaffneten Arm des Roten Kreuzes. Eine Reihe von SPDen haben die Programmarbeit unter das ideologische Leitmotiv des Hütchenspiels gestellt. Raten Sie selbst, wo Hartz, wo Anti-Hartz, und wo Kunsthartz drunter ist.

Eine jäh aufglimmende Partikularpartei (�Piraten�) filettiert kurz die Mehrheit in Düsseldorf, bevor sie implodiert. Und eindrucksvoll das Platzpatronat der FDP, die von fünf auf 15 auf fünf Prozent fiebert.

Meinungsforscher sprechen vom Übergang des Politikverdrusses zur Politikverachtung. Nach der Enthüllung seines Betruges war Guttenberg demoskopisch so beliebt wie zuvor. Man kann die Deutung nicht ausschließen, dass die Lüge, der schmutzige Trick im Rollenbild �Berufspolitiker� längst eingepreist war. Über den Doktorschwindel waren Guttenbergs Fans nicht überrascht. Politische TV-Runden halten ein Sonderstühlchen für Experten vor (�Hart aber fair�) oder ein Betroffenensofa (�Anne Will�). Okay, wenn dort eigens die sitzen, die die Wahrheit sagen � was tun dann die anderen Gäste dieser Sendungen? Sagen wir nicht, wir hätten damals nichts gewusst.

Falsche Richtung

Wir hängen mittendrin. Der Journalismus � im TV vor allem � arbeitet eine mehr oder minder von den Parteien vorgegebene und munitionierte Tagesordnung ab. Viele Politiker geben den nationalen Thingstätten (Will, Illner, Plasberg, Beckmann, Maischberger, Kerner und so fort) Bedingungen vor, �zu denen sich der Minister gern äußert�. Die Ein- oder Ausladung anderer Gäste gilt als marktübliche Teilnahmebedingung.

Die Öffentlich-Rechtlichen, die in diesen Gefäßen letztlich ihre Zahlherren beherbergen und bewirten, machen das mit. Das folgt einer unterlegten Idee, Parteipolitik zu verdolmetschen: nüchtern betrachtet ein Diskurs von oben nach unten.

Die kommerziellen Sender hingegen verzichten weitgehend auf parteipolitische Berichterstattung. RTL-Chefin Anke Schäferkordt regt eine Bonifikation für Privatsender an, wenn sie Nachrichten oder journalistische Programme bringen. Damit würde RTL gut dastehen: Sie ziehen immerhin eine Nachrichtenleiste durch und setzen mit deren Machart und Erfolg auch öffentlich-rechtlichen Sendern Maßstäbe.

Durch irgendein Wunder gilt Pro7 mit acht Minuten Nachrichten am Tag den Medienwächtern als �Vollprogramm�. Die ARD hingegen bietet das Feinste auf, einen �Tatort�, mit neun und gar zehn Millionen Zuschauern. Die werden dem Sesselkreis der Berufspolitiker vor die Füße gespült, die daraus binnen einer Stunde mitunter weniger als zwei Millionen Zuschauer machen.

Versuchen Sie mal, mit dieser Empfehlung einem kommerziellen Sender ein Konzept für eine politische Gesprächssendung zu verkaufen. RTL ließ den dazu finster entschlossenen Günther Jauch ziehen. Kommerzieller TV-Journalismus in Deutschland greift weit in Tratsch, Horror, Human Interest und Verbraucherthemen aus. Die Welt ist bunt, oder die Schurken sind schlecht, oder im Adventsprogramm sammeln wir für einen guten Zweck.

Falltiefen

Da klafft die Lücke, in die wir Journalisten mit hineingefallen sind. Als Mikrofonständer des parteipolitischen Personals rauschen wir mit ab in die Geringachtung, als Blut-&-Hoden-Experten kommen wir da nicht wieder raus.

Ein guter Teil der Branche verzichtet auf den Versuch, den Diskurs von unten nach oben zu organisieren. Eine öffentlich-rechtliche Karriere steht eher dem offen, der nahe bei den Brotherren aus den Parteien bleibt. Die drohen immer wieder mal gerne mit Einschnitten, weniger Gebühren und greifen mit Personalplatzierungen beherzt ins Programm.

Die andere, kommerzielle Hälfte des TV-Marktes kommt gut zurecht, keinen gesellschaftlichen oder politischen Diskurs zu organisieren. Wenn man keinen einlädt, lädt man auch nie den Falschen ein. In Großbritannien und den USA wären kommerzielle Sender mit einer so vollständigen Abwesenheit gesellschaftlichen Engagements schändlich.

In diesem Humus gedeihen Designergäste wie der eitle Großschnauzer Sarrazin: redet NPD, ist SPD und bietet so kommerziellen Trash zum öffentlich-rechtlichen Preis. Seine Gattin hat auch ein paar völkische Beobachtungen über faule Schüler auf Lager und wenn empörenderweise beide länger nicht interviewt wurde, pöbelt er halt wieder ein paar Minderheiten an. Sarrazin einladen ist wie nach einem langen Winter zu viel Gülle auf dem Hänger zu haben. Die Geschmacksrichtung �zu viel Parfum� heißt Guttenberg.

Ernste Abwanderung

Die Wähler kündigen den Parteien � die Zuschauer den politischen Formaten. Die öffentlich-rechtlichen Sender müssen sich von Bürgerinitiativen belehren lassen, dass die Menschen sich sehr wohl für die Gesellschaft interessieren. Die Kommerziellen staunen, dass man nicht alle gesellschaftlichen Widersprüche mit 300 Gramm Silikon entscheidend puffern kann.

Diese Fernsehlandschaft schmeißt das Potenzial weg, das ihre Kunden mitbringen. Die sicherste Garantie für den Bestand der Öffentlich-Rechtlichen sind die Ministerpräsidenten, auch die Konservativen, die eingesehen haben: Außer ihrem dritten ARD-Programm möchte sie eigentlich niemand mehr interviewen.

Die größte Gefahr für die Kommerziellen sind volkstümliche Programme, die das Publikum ernst nehmen. Sonst nimmt das Publikum ernst, und zwar ein anderes Medium. Die aktuellen Bürgerbewegungen leben organisatorisch bereits von dem Nachfolgemedium Internet.

Friedrich Küppersbusch (50) ist Journalist und Geschäftsführer der Fernsehproduktionsgesellschaft Probono in Köln und Berlin.

www.probono.tv

Erschienen in Ausgabe 07+08/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 32 bis 37 Autor/en: Friedrich Küppersbusch | Foto: Dpa. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.