Für kalkfreien Journalismus

Mit ihrer Arbeit werden die jungen Kollegen von heute den Journalismus der nächsten Jahrzehnte prägen. Sie werden klassischen Vorbildern folgen, aber sie werden keine Nachahmer sein. Zum Glück!

Vorwärtsgewandter Journalismus muss radikal einfach sein. Denn im Kern des Kontrakts, den der Kunde täglich mit den Medien schließt, stehen Verständlichkeit, Überprüfbarkeit, Emotion und persönliche Nähe. Der Leser, Hörer, Zuschauer möchte dem Journalisten persönlich vertrauen. Er will hinter der professionellen Distanz einen Menschen mit Leidenschaft und Mitgefühl spüren. Mal ehrlich: Die trockene Nachricht war noch nie des Lesers Leibgericht. Daher:

1. „Einfach werden – radikal“

Journalismus ist Komplexitätsreduktion. Um es mit den Worten des Dichters zu sagen: „Einfach werden – radikal. / Kompliziert, das war einmal. / Weil … Subtilität / kaum ein Leser noch versteht“ (Peter Rühmkorf). Der Journalist muss sich vom Dünkel verabschieden, Dienstleister allein für die gebildeten Stände zu sein. Sein gesellschaftlicher Auftrag verpflichtet ihn, allen Gruppen der Gesellschaft unabhängig von ihrem Bildungsstand ein attraktives Angebot der Welterklärung zu machen, das sich an ihrem jeweiligen Horizont, ihren Erfahrungen und Kenntnissen orientiert. Qualität ist, wenn der Leser nach der Lektüre sagt: „Ich habe verstanden!“

2. Man, ein Vorurteil

Das Wörtchen „man“ ist das Personalpronomen des Vorurteils. „Bild“ liest man nicht, in eine PR-Abteilung geht man nicht, Bilder menschlicher Erniedrigung zeigt man nicht. Falsch! In diesen Vorurteilen rieselt der Kalk. PR-Mitarbeiter können Weltmeister in der Erklärung komplizierter Sachverhalte sein. Ein Boulevardredakteur wird wie kein anderer aus einem Wust von Nachrichtenmeldungen drei Sätze destillieren, die das Geschehen auf Anhieb für jeden verständlich machen. Und um die Würde des Menschen zu wahren, muss der Journalist auch seine Entwürdigung vor Augen führen – wie in der Videosequenz von der sterbenden Neda Agha Soltan oder auf den Fotos der Gefolterten in Abu Ghraib.

3. Kämpfen mit offenem Visier

Wer die Welt verstehen will, muss mit lebendigen Menschen reden. Es reicht nicht, der ins Internet entsandte Reporter zu sein, der sich wie Julian Assange durch die Festplatten wühlt. Journalismus heißt, mit Menschen zu reden, ihre Gesten zu studieren, aus ihren Augen zu lesen. Der Journalist muss spüren, was Menschen bedrückt, sie dazu bringen, ihr Herz, ihren Mund zu öffnen. Der Journalist kämpft mit offenem Visier. Er steht mit seinem Namen für das, was er schreibt. Er ist kein Netz-Anonymus. Er setzt sich ab von der Schwarmintelligenz. Er verteidigt individuelle Erkenntnis gegen Massenwahn.

4. Journalismus muss nachhaltig sein

Wo Politiker ihre Versprechen nicht halten, wo Probleme wolkig wegdefiniert werden, lautet der journalistische Auftrag: Dran bleiben, nichts durchgehen lassen, jedes Versprechen wieder aufrufen, Versagen dingfest machen. Das ist nachhaltiger Journalismus, häufig als „Kampagnenjournalismus“ verunglimpft. Andersherum ist richtig: Nachhaltiger Journalismus muss kampagnenfähig sein.

5. Leser als Mitmachreporter

Der Leser ist mehr als Konsument. Er ist Tippgeber und Meinungslieferant. Jede Mailfunktion „Nicht zu erreichen. Mails werden nicht gelesen“ und jede Endloswarteschleife sind tödlich für den Kontakt zwischen Leser und Redaktion. Der Journalist muss auch im digitalen Zeitalter verlässlich und persönlich ansprechbar sein, sonst erleiden die Medien einen Vertrauensverlust.

6. Journalismus muss sich die Justiz vorknöpfen

Noch so ein lähmendes „man“: Man betreibt keine Richterschelte. Die Unabhängigkeit der Justiz stellt sie nicht frei von der Kritik durch die Öffentlichkeit. Wer, wenn nicht die Medien, kann die Arbeit von Richtern und Staatsanwälten auf den Prüfstand stellen: Fehlurteile, voreingenommene Richter, Staatsanwälte, die entgegen ihrem Auftrag nur nach Belastungs- und nicht mehr nach Entlastungsbeweisen suchen und selbstherrlich agieren. Wo Exekutive und Legislative qua Grundgesetz zum Schweigen verurteilt sind, müssen die Medien zur öffentlichen Kontrollinstanz werden.

7. Detektive sind keine Kumpane

Murdochs britische Blätter haben gezeigt, in welchen Abgründen kriminellen Verhaltens sich Journalisten bewegen können. Recherche gehört zum Kerngeschäft des Journalismus. Das darf nicht outgesourct werden. Da braucht die Redaktion Kontrolle bis ins letzte Detail. Wenn den Verlegern das Ansehen ihrer Blätter etwas wert ist, dann spricht alles dafür, die Redaktionen so auszustatten, dass sie Recherchen mit ihrer eigenen Mannschaft erledigen können. Die Selbstverpflichtung muss heißen: Recherchieren können wir selbst, dafür brauchen wir keine zwielichtigen Detektive.

Ernst Elitz (70) war von 1994 bis 2009 Gründungsintendant des Deutschlandradios, zuvor „Spiegel“-Redakteur, Moderator des ZDF-„heute journal“, Fernseh-Chefredakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart und schreibt inzwischen regelmäßig Kommentare in der „Bild“.

Als Honorarprofessor lehrt er an der Freien Universität Berlin Kultur- und Medienmanagement.

Erschienen in Ausgabe 09/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 26 bis 37. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.