Häppchenjournalismus

Eine Zucchini-Tarte ist im Ofen, hinten in der Ecke wird versuchweise Kokosmilch aufgeschäumt und Ingwer gehackt, die Nusstörtchen sind gerade fertig, knallige Cranberrysauce inklusive, auf dem großen Tisch in der Mitte steht ein Topf mit einer Art Gulasch. Und irgendwer reicht lauwarme Scones mit Mascarpone-Mandel-Crème. Es wird gehäckselt, gerührt, püriert und geschnippelt.

Die Luft in der Versuchsküche von „Essen und Trinken“ schwirrt derart vor Geräuschen und Gerüchen, dass man schon nach einer halben Stunde das Gefühl hat, satt zu sein. Und mittendrin steht Stephan Schäfer, der Chefredakteur des Traditionsheftes, der, so sagt er, fünf bis zehn Mal am Tag die Etage von seinem Büro in die Küche hinabsteigt, um zu probieren, was gerade frisch aus der Pfanne oder dem Ofen gekommen ist. Ende 2010 hatte er „Essen und Trinken“ übernommen – und erst einmal das Heftkonzept erneuert. Selbst den Namen „Versuchsküche“ möchte er nicht mehr hören. Dass er nebenher „Schöner Wohnen“ leitet und ab Frühjahr 2012 auch „Häuser“, zeigt, wie synergetisch bei G+J gedacht wird. Oder personalsparend. Das Problem von „Essen und Trinken“ war: Das Thema boomte, neue Titel kamen auf den Markt, mit „Beef!“ und zuletzt „Jamie“ auch aus dem eigenen Verlag, doch die Auflage rutschte immer weiter nach unten.

1. Die Zeitschriften

Schäfer erdete die Rezepte, „alles muss auch in einer mittelgroßen Stadt im Supermarkt gut erhältlich sein“, er schickt jetzt auch die Köche raus in die Welt, sie tauchen erstmals prominent im Heft auf. Es zahlt sich aus, die Einzelverkaufsauflage stieg im Vergleich zum Vorjahr um 34 Prozent. Dass an den acht Profiköchen genauso festgehalten wird wie daran, jedes Gericht drei Mal zu kochen, dass man Trends setzen möchte nach wie vor, wie Küchenleiter Achim Ellmer betont, und dass ein Fototermin platzt, weil die Farbe einer Tamarillo nicht stimmt, betont den liebevollen Aufwand, der hier betrieben wird.

Eine junge Generation Zeitschriften definierte neu: Ernährung ist Lebenseinstellung, Essen eine kulturelle Praxis. In diese Riege gehört neben dem bombastischen, für Männer konzipierten „Beef!“ auch „Effilee“, das Herausgeber Vijay Sapre aus einem Online-Auftritt entwickelte. Die Auflage ist stabil, Gewinn macht man nicht.

Food-Transparenz, Nachhaltigkeit, Authentizität, das ist bei „Effilee“ Konzept. In der Rubrik „Drei Töpfe“ gibt es in jedem Heft eine Lektion in Globalisierung: eine Zutat, zubereitet von Menschen aus drei Ländern. Der Klassiker „Der Feinschmecker“ sieht neben diesen modernen Esskultur-Heften wie „Beef!“ oder „Port Culinaire“ etwas altbacken aus. Noch dazu, wo nach wie vor auf Besten-Listen gesetzt wird – und dass die Zweifel an der Unabhängigkeit solcher Listen immer lauter werden, merkt man nicht nur an der seit Jahren schwelenden Debatte um den „Gault Millau“.

2. Das Thema kocht

„Wir sind eine Gesellschaft, die vor dem Fernseher sitzt, Nüsschen knabbert und in Kochbüchern stöbert“, sagt Gunther Hirschfelder von der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Kochbücher und Essens-Zeitschriften zu lesen bedeutet eben noch lange nicht, auch in Aktion zu treten – und sich an den Herd zu stellen. Bücher kämen oft nur als sogenannte Coffee-Table-Books zum Einsatz, meint auch Trude Ehlert, die Grande Dame der Kochbuchforschung. Ästhetischer Genuss statt Löffelabschlecken. Gucken statt Machen. Dieses Surrogat vermittelt auch so etwas wie eine heile Welt, zumindest kulinarisch. „Essen vermittelt emotionale Sicherheit. Wenn du in einem prekären Arbeitsverhältnis bist, dann willst du wenigstens ein bisschen Glück, ein schönes Essen haben“, erklärt Hirschfelder. Es spiegelt auch das Bedürfnis, an die Hand genommen zu werden. Siehe da, es ist alles ganz einfach. „Die Gesellschaft scheint auch ein bisschen gemütlicher geworden zu sein“, sagt Julia Jäkel von Gruner+Jahr. Man bleibe lieber zu Hause. „Cocooning“ ist das Wort zum gesellschaftlichen Trend. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist das Bedürfnis, in dem immer stärker digitalisierten Alltag etwas ganz Analoges zu machen: kochen eben. „Es ist ein Lifestyle-Thema geworden. Das kommt uns sehr zupass“, erkennt Schäfer.

3. Die TV-Formate

Dass die Köche die Stars sind, die Personalisierung dieser löffelschwingenden Figuren der Kern zum Erfolg ist, ist seit Jamie Oliver unübersehbar. Es gibt keinen, der nicht seine eigene Kochbuchreihe, eigene Produktlinien, Magazine hat. Mit Manuela Ferlings „Kochende Leidenschaft“ gibt es sogar eine Agentur, die sich auf die Vermarktung der Köche spezialisiert hat. Erfolgreich. Sie war es, die etwa Tim Mälzer entdeckte. Als Johannes B. Kerner anfing, freitagabends eine Handvoll Sterneköche in eine Studioküche zu stellen und mit ihnen zu plaudern, während sie ihr Mehrgang-Menü kochten und buken, war das unterhaltsam. Mittlerweile stellt sich ein Sättigungsgefühl ein. „Ich habe in den letzten Jahren fünf, sechs TV-Angebote bekommen“, erzählt Nicole Stich, Bloggerin von „Delicious Days“. „Dabei ist die kulinarische Fernsehlandschaft seit Jahren gnadenlos übersättigt – innovative Formate sind Mangelware“, findet sie.

Allein bei Vox gibt es sechs verschiedene Kochformate, das neueste, „Wer is(s)t besser“, noch nicht mitgezählt. „Wir sind Koch-Trendsetter“, sagt Chefredakteur Kai Sturm selbstbewusst. „Die Zeit des klassischen Frontalkochens ist vorbei. Wenn einer ein Ei in die Pfanne schlägt, holen Sie damit niemanden mehr vors Fernsehen.“ Vox holte Tim Mälzer ins TV, legte mit dem Dauerläufer „Kochduell“ schon in den Neunzigern ein originelles Format vor, eine eigene Koch-Community-Seite gehört längst zum Portfolio. Doch: „Es ist nicht gut, als Kochsender wahrgenommen zu werden“, merkt Sturm selbstkritisch an.

Immerhin: Es gibt die Kraut- und-Rüben-Sendung namens „Konspirative Küchenkonzerte“ auf ZDFkultur, die sich selbst als „Kunst-Musik-Kochsendung mit Live-Performance“ beschreibt; und sie war 2010 für den Adolf-Grimme-Preis nominiert. Aber dennoch, ob Kochen in den dritten Programmen oder das „Perfekte Dinner“, ob Sternekoch Tim Raues eigentlich als Abendsendung gedachtes „Deutschland sucht den Meisterkoch“ oder, wahrscheinlich, der nigelnagelneue Koch-Geschlechterkampf „Wer is(s)t besser“ auf Vox: Keines davon ist ein Straßenfeger. Nicht wie „Masterchef“, das in den USA, in Indien und in Australien jedes Mal alle Quotenrekorde bricht. Und ernsthaft: Wer kann sich vorstellen, dass der Dalai Lama in einer deutschen Kochsendung auftritt und sich bekochen lässt? Eben. In Australien ist das vor ein paar Wochen tatsächlich passiert.

4. Digitale Genüsse

Die einen dachten schon 2002, das Thema Foodblogs sei gegessen, die anderen nahmen 2007, 2008 und seither in jedem Jahr an, der Siedepunkt für Genussblogs sei erreicht. Dass dem offensichtlich nicht so ist, lässt sich derzeit an einer Aktion der Frauenzeitschrift „Brigitte“ ablesen: Man hat die „Food Blog Awards 2011“ ausgerufen. In der Jury sitzt unter anderem Nicole Stich. Ihr Foodblog „Delicious Days“ gehört zu den ältesten in Deutschland – sie gründete es 2005. Zwei Jahre später konnte sie ihren Brotjob an den Nagel hängen. Ihr Ruf als Genuss-Expertin hatte sich herumgesprochen. Das Blog wurde zum Dreh- und Angelpunkt einer neuen Job-Identität: Sie ist Food-Fotografin, Kochbuchautorin, Bloggerin. Etwa 6.000 bis 7.000 Unique Visitors hat ihre Seite jeden Tag. Die Kollegen aus dem angelsächsischen Raum haben es zuweilen leichter
, von dem Blog zu leben. Blog-Sponsoren, Werbebanner sind Standard. Dort sei man Werbung gegenüber eben aufgeschlossener, sagt Stich.

Dass gerade Blogger, deren Pfund die Authentizität ist, eben deswegen für PR-Agenturen die ideale Zielgruppe sind, ist bekannt. Doch auf Übersichtsportalen, die etwa Wein- und Genussblogs bündeln, ist bei den einzelnen Blogs vermerkt, ob der Betreiber für derlei Zusammenarbeit offen wäre. Stich lehnt das für sich etwa kategorisch ab, auf ihrer Kontaktseite steht in sehr deutlichen Worten, wer sich gar nicht erst bei ihr melden muss. Kurz: Alle, die ihr derlei Geschäfte vorschlagen. Diese Transparenz gehört hierzulande dazu.

„Die Foodblogger, die in den letzten zwei Jahren eingestiegen sind, waren von Anfang an auf einem höheren Niveau als wir damals“, sagt sie. Und meint damit etwa auch den Qualitätslevel der Fotos. Jedoch, warnt Stich: „Wenn die Rezepte nichts taugen, hilft auch das beste Foto nicht.“ Noch fokussierten sich die meisten deutschen Foodblogs auf Rezepte, sagt Stevan Paul, Ex-Gruner+Jahr-Redakteur, der sich mittlerweile mit „NutriCulinary“ einen Namen als Foodblogger gemacht hat. Doch es gibt längst Social-Media-Formate mit klarem Konzept jenseits reiner Rezepte-Börse: Da wäre etwa Jennifer Causeys „Simply Breakfast“, ein Frühstücks-Fototagebuch, oder Malin Elmlids „Bread Exchange“: Letztere backt Sauerteigbrot im Tausch gegen anderes Selbstgemachtes. Und dann denke man nur einmal an das berühmt gewordene „Julie/Julia-Project“-Blog, für das Julie Powell ein Jahr lang die Rezepte der in den USA berühmten Kochbuchautorin Julia Childs nachkochte und über ihre Kocherlebnisse und Frustrationen bloggte. Die Geschichte wurde längst verfilmt, mit Meryl Streep und Amy Adams.

Dass jetzt selbst Wolfram Siebeck (siehe Interview) unter die Blogger gegangen ist, obwohl er wie so viele andere der Blogosphäre mit Abneigung begegnete, spricht Bände. „Willkommen“, kommentierte Stevan Paul die Neuigkeit freundlich.

Der längst überfällige nächste Schritt der Medienhäuser wäre, Applikationen für mobile Endgeräte zu kreieren, rund ums Kochen, Trinken, Essengehen. Ein servicelastiges Thema, das gerade beim Unterwegssein wichtig ist, ideal also für Apps wie das avangardistische Projekt „Foodspotting„, das hilft, Restaurants nach Essensgelüsten zu finden, je nach dem, wo man gerade ist.

Doch noch sieht’s bei den Verlagen und Sendern eher mau aus. In der Regel sind es Rezeptsammlungen, innovative Narrationsformen Fehlanzeige. „Essen und Trinken“ etwa hat bislang gerade einmal zwei saisonale Apps im Angebot, für die ebenfalls zu Gruner+Jahr gehörende Rezept-Community chefkoch.de soll noch 2011 eine App fertig werden.

„Wir wollen nicht nur Apps herausbringen, die ‚quick and dirty‘ sind“, erklärt Jäkel. Man wolle lieber in aller Ruhe schauen, was gut funktioniere. Doch: „In einer App nur alte Rezepte anzubieten, reicht nicht“, findet Stevan Paul. Er hat die Sache jetzt selbst in die Hand genommen und eine App für Vegetarier kreiert. Die Fotos wurden explizit dafür geschossen, man kann die Teller drehen, jede Zutat gibt es als Freistellerbild, so dass man auch im Ausland einkaufen kann – aufs Bild zeigen genügt.

Übrigens: Die Startauflage von „Essen und Trinken“ vor 40 Jahren lag angeblich bei 400.000 Exemplaren. Danach würden sich heute alle die Finger lecken.

 

LINKTIPPS:

Genussblogs
Wolfram Siebecks „Wo isst Siebeck?“: wo-isst-siebeck.de
Stevan Pauls „NutriCulinary“: www.nutriculinary.com
Nicole Stichs „Delicious Days“: www.deliciousdays.com
Über Julie Powells „Julie/Julia-Project“: juliepowellbooks.com/blog
Jennifer Causeys „Simply Breakfast“: simplybreakfast.blogspot.com
Malin Elmlids „Bread Exchange“: www.facebook.com/groups/breadexchange
„The Food Life“: thefood-life.com
„Genussziele“: www.genussziele.com
Ashleys „Butterflyfood“: butterflyfoodie.blogspot.com
Jennifer Livingstones „Dinner, a love story“: www.dinneralovestory.com
Portal über Weinblogs: wineblogger.info
Portal über Genussblogs: genussblogs.net

Termine & Co.

Weinblogger-Konferenz: winebloggersconference.org/europe
„Brigitte“-Foodblog-Award: www.brigitte.de/rezepte/food-blog-award

Apps
„Foodspotting“:
Im Fokus: Restaurantsuche nach Gerichten. Kostenlos.
www.foodspotting.com

„Go Veggie!“
Mit Tellern, die sich in alle Richtungen drehen lassen.
3,99 Euro
www.nutriculinary.com

 

Erschienen in Ausgabe 09/2011 in der Rubrik „Special“ auf Seite 40 bis 42 Autor/en: Anne Haeming. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.