Kein Wischi-Waschi

Herr Herres, Loriot stirbt, und die ARD ändert erst ab 22.45 Uhr ihr Programm, um seiner zu gedenken? War es wirklich unmöglich, die Pferdeserie „Das Glück dieser Erde“ zu verschieben oder die Wiederholung der Soap „In aller Freundschaft“ ausfallen zu lassen?

Volker Herres: Ich bin selbst nicht ganz glücklich damit, obwohl ich die Entscheidung selbstverständlich zu verantworten habe. Sie können bei Serien schwer den Rhythmus unterbrechen, und wenn Sie eine fertig produzierte Sendung „Plusminus“ aus dem Programm nehmen, beklagen sich, völlig zu Recht, die Chefredakteure. Das ist Alltagsbusiness, das aus vielen Sachzwängen und Kompromisslinien besteht. Aber Sie haben Recht: Das hätte man vielleicht auch noch besser lösen können.

Dazu passt, dass Ihr Hauptfokus bei der Programmierung größtmögliche Berechenbarkeit zu sein scheint, auf Kosten jeglicher kreativer Beweglichkeit.

In diesem Fall ging es nur um eine Tagesentscheidung. Aber grundsätzlich ist meine Philosophie tatsächlich die gleiche, mit der ich im letzten Jahr Silberhochzeit gefeiert habe: Eine gute Beziehung besteht aus einem hohen Maß an Vertrautheit, Verlässlichkeit und Berechenbarkeit, aber wenn es nichts Überraschendes und Abwechslungsreiches dazwischen gibt, dann ist sie auch zum Scheitern verurteilt. Diese Dialektik ist das Geheimnis großer Beziehungen – auch im Fernsehen. Der Zuschauer will sein Programm kennen wie seine Wohnung. Er will im Dunkeln den Lichtschalter finden können. Deswegen muss ein Fernsehangebot so verlässlich, vertraut und so heimisch wie nur möglich sein. Das ist die Basis, und auf dieser Basis müssen Sie dann immer wieder Überraschendes schaffen.

„Das Erste“ wirkt nur so gar nicht dialektisch. Das Überraschende fehlt da sehr.

Die beiden Größen dürfen auch nicht gleichberechtigt sein. Das verlässliche Gerüst, selber Platz, selbes Format, selbes Gesicht, muss die Basis sein. Erst wenn die funktioniert, können Sie immer mal wieder aus dem Schema ausbrechen, etwa mit „Drei Leben“ (drei verbundene Spielfilme von Dominik Graf, Christian Petzold und Christoph Hochhäusler, die Das Erste am 29. August an einem Abend zeigt). Oder einem Dokudrama nach dem „Tatort“, oder einen Eventabend gestalten, wie am 19. Oktober mit „Homevideo“: Im unmittelbaren Anschluss an den dramatischen Fernsehfilm wird sich Anne Will in ihrer Gesprächssendung ergänzend und erklärend dem Thema Cybermobbing widmen.

Aber ist es nicht traurig, dass so nur in der Sommerpause Platz für ein herausragendes Format wie die BBC-Krimireihe „Sherlock“ ist?

Es ist nicht so. Wir finden immer Plätze, wenn uns etwas wichtig ist, und das nicht nur im Sommer. Nehmen Sie etwa Dominik Grafs Krimi-Reihe „Im Angesicht des Verbrechens“, sie wurde ab Oktober, immer Freitag um 21.45 Uhr gesendet. Aber Ihre Beschreibung ist auch nicht ganz verkehrt, darum arbeiten wir daran. Mit dem neuen Sendeschema werden wir die Pausen unserer Gesprächsformate entzerren. Nicht alle werden ausschließlich im Sommer Ferien machen, so dass wir auch an anderen Stellen freie Plätze bekommen, die es uns erlauben, etwa „Deutschland deine Künstler“ oder andere dokumentarische Reihen zu zeigen. Das „Sommerkino“ wird dann Montag um 20.15 laufen – das lag mir immer am Herzen. Wir haben auch jetzt schon über das ganze Jahr hinweg Möglichkeiten, im Vertrauten auch mal unkonventionell zu programmieren, und das wollen wir künftig verstärken.

Ein Hauptanliegen des neuen Schemas war es, dass die „Tagesthemen“ montags bis donnerstags einheitlich um 22.15 Uhr beginnen. Was bringt das? Mehr Zuschauer?

Nein. Das ist keine Quotenentscheidung. Die „Tagesthemen“ haben auch bisher nach „Hart aber fair“ ein ordentliches Ergebnis erzielt. Und in der Sommerpause von „Hart aber fair“, als sie um 22.15 Uhr liefen, gab es keinen relevanten Unterschied. Das ist nicht die Motivlage.

So hieß es aber doch immer.

Wir treffen doch keine Entscheidung nach Quotengesichtspunkten! Wir sind doch öffentlich-rechtlich. Wir treffen sie nach Prinzipien.

Sie müssen mir sagen, wo ich beim Transkribieren ein Ironiezeichen einfügen soll.

Ich bin genetisch ironieunfähig … Nein, im Ernst: Ich habe das mit den unterschiedlichen Anfangszeiten nie so dramatisch gesehen: Es ist ein Schönheitsfehler, aber die Menschen finden die „Tagesthemen“ trotzdem, und sie schauen sie trotzdem. Gleichwohl hat mir eingeleuchtet, dass es schwer zu vermitteln ist, wenn eine unserer beiden Hauptnachrichtenformate an den klassischen Werktagen an einem Tag einfach mal ein bisschen später kommt.

Wenn man sich die Diskussion über die Verschiebung der Dokumentationen in Randzeiten anguckt …

Die sind nicht in Randzeiten.

Montags, 22.45 Uhr …

Die erste kommt schon mal montags um 20.15 Uhr.

Die Naturfilme haben Sie bislang aber auch nie mitgezählt.

Doch, ich habe sie immer mitgezählt. Nur die mich begleitende Publizistik nicht. Das sind klassische Dokumentationen, wenn auch zu einem bestimmten Themenspektrum. Aber wir zeigen hier ja nicht ausschließlich possierliche Tierchen: Der Naturfilm hat eine Entwicklung gemacht und beleuchtet heute sehr ganzheitlich ökologische Zusammenhänge und vieles andere. Reihen wie „Wildes Skandinavien“ sind für mich klassisches dokumentarisches Fernsehen. Und: Ende August lief da zum Beispiel eine Dokumentation über Hunger in Afrika.

Aber der Platz montags um 21 Uhr fällt weg. Der Eindruck: keine Dokus in der Primetime.

22.45 Uhr ist eine Zeit, in der man Dokus sehr gut anbieten kann. Sie werden dort genauso ihr Publikum finden, da bin ich ganz optimistisch. Sie müssen sehen, dass das Instrument der Zwangsbeglückung von Menschen uns nicht zur Verfügung steht. Ich bedaure das auch. Das war in früheren Zeiten sicher mal anders. Aber bei der Angebotsfülle und der Beweglichkeit, die die Menschen in ihrem Medienverhalten heute haben, ist der Gedanke falsch, dass man etwas nur um 20.15 Uhr senden müsste, damit es von Millionen Menschen gesehen wird, während es um 22 Uhr keiner mehr schaut.

Apropos Medienverhalten: Vielen ist das Programm egal, sie schauen TV via Mediathek. Auch die Nachrichten. Gegen die kostenlose „Tagesschau“-App klagen jetzt die Verlage. Wieso ist das mobile Angebot für die ARD so wichtig, dass man das in Kauf nimmt?

Die „Tagesschau“-App ist doch letztlich nur ein vereinfachter Zugang zum Angebot von tagesschau.de. Und der ARD müssen als öffentlich-rechtlichem Sender alle Ausspielwege für ihr kostenloses Angebot zur Verfügung stehen. Schließlich zahlen auch jene Menschen Fernsehgebühren, die sich via Handy über das aktuelle Weltgeschehen informieren wollen. Und das sind häufig jüngere Menschen, die wir gerade auch mit unseren Informationsangeboten erreichen sollen und wollen.

Vor anderthalb Jahren sagten Sie, die Verleger-Debatte um die „Tagesschau“-App trage „hysterische Züge“ – wie beurteilen Sie sie heute, schließlich hat sie an Schärfe gewonnen?

Was ich bedaure. Denn wir wollen und suchen den Konflikt mit den Printmedien nicht. Wir haben ein gemeinsames Interesse an Qualitätsjournalismus. Und ich persönlich glaube, dass sich unsere Angebote eher wechselseitig befruchten.

Das andere Aufregerthema derzeit: die Talkshowflut. Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Ich finde interessant, dass wir mit fünf Gesprächsformaten und fünf herausragend profilierten Gesichtern die Kritikpfeile auf uns ziehen, während das ZDF zwar weniger Köpfe, aber nicht weniger Talk hat und gerade angekündigt hat, dass es die Sendung von Markus Lanz noch verlängert.

Immerhin sind es nur vier Shows pro Woche: Dreimal Lanz und einmal Maybrit Illner.

Kommt mir immer vor
wie fünf … Unsere Gesprächsformate mit diesen unglaublich profilierten, tollen Journalisten – das sind doch alles herausragende Fernsehleute mit intellektueller Substanz.

Vermutlich wird sich die Ausweitung von den Quoten her auszahlen. Aber die Frage ist doch: Wird das Öffentlich-Rechtliche bald in eine Legitimationskrise kommen, weil die Quoten zu schlecht sind? Oder weil es nicht begründen kann, dass sein Programm so wertvoll ist, dass man dafür Gebühren nimmt?

Es ist beides. Wir würden einen Fehler machen, wenn wir im Ersten ein am Ende legitimatorisch noch so überzeugendes Programm hinlegten, das von den Leuten nicht akzeptiert würde. Umgekehrt, wenn wir Programm machen würden wie RTL, hätten wir es auch falsch gemacht. Wir dürfen nicht Quote gegen Qualität oder Reichweite gegen Relevanz ausspielen. Und die Talks sind ja kein kommerzielles Wischi-Waschi-Fernsehen. Da werden relevante Themen der Gesellschaft erörtert.

Die Themen kritisiert ja niemand. Nur – wäre der Umgang mit den Themen in anderer Form nicht erkenntnisstiftender?

Aber das ist ein anderer Punkt. Man kann fragen: Brauchen wir solche Gesprächssendungen? Ich sage: Gespräch ist auch eine Form des Fernsehens, wie Fiktion, Dokumentationen … Dass Menschen miteinander reden, gehört doch in das Medium Fernsehen. Es hat auch immer dazugehört.

Aber nicht fünf Tage die Woche.

Wir senden die doch nicht ganztägig! Jetzt haben wir halt fünf – auch weil ich persönlich gerne die Scharte von damals auswetzen wollte, als Günther Jauch zur ARD wollte und wir es nicht hingekriegt haben. Ich wollte Günther Jauch haben, weil ich glaube, dass er ein Gewinn für uns sein wird. Und die fünf werden sich in ihren Formaten deutlich unterscheiden.

In einem Interview sagten Sie, „Hart aber fair“ komme allein deshalb schon um 21 Uhr, weil das Format zu anspruchsvoll für die Zeit nach den „Tagesthemen“ sei. Also müsste man harte Dokumentationen um 20.15 Uhr senden und seichte Stoffe wie „Das Glück dieser Erde“ dringend erst spät am Abend.

Jetzt interpretieren Sie mich in einer Weise, der ich widersprechen muss. „Hart aber fair“ ist doch in der Tat das Format, das sich am stärksten abhebt, weil es mit Einspielern, dem Faktencheck, einem ganz anderen Aufbau in einer Form stattfindet, die schon eine konzentrierte Aufmerksamkeit erfordert. Und die ist, glaube ich, in der ersten Primetime in der Regel größer als in der Zeit nach den „Tagesthemen“. Aber Sie merken ja, man kann alles begründen und das Gegenteil auch.

Ich habe das Gefühl, dass genau das eine Ihrer wichtigsten Disziplinen ist: alles begründen und das Gegenteil auch.

Egon Friedell hat, glaub’ ich, mal gesagt, wer das kann, ist ein richtig großer, aber das möchte ich nicht für mich beanspruchen.

Sie definieren Qualität sehr über die Quote. Vergangenes Jahr freuten Sie sich über den Zuwachs bei den 14- bis 49-Jährigen, im ersten Halbjahr 2011 verlor die ARD in dieser Altersgruppe einen Prozentpunkt Marktanteil, es sind nun 6,8 Prozent. Was lief schief?

Ich definiere Qualität nicht in erster Linie über Quote. Ich glaube nur, dass Relevanz auch durch Reichweiten entsteht. Was schiefgelaufen ist? Wir haben weniger Spitzensport gehabt in diesem Jahr. Nächstes Jahr ist es wieder anders. Ich finde das nicht dramatisch. Wir werden immer etwa in dieser Größenordnung bleiben, vielleicht gelingt es uns, ein bisschen draufzulegen. Wir werden immer wieder Dinge tun, wie den Eurovision Song Contest modernisieren oder den Echo Pop ins Erste holen, damit auch Jüngere sagen: Guck mal an, Das Erste kann auch anders sein, als wir es vielleicht in unseren Klischees oder unseren Eindrücken verfestigt haben. „Sherlock“ gehört übrigens auch dazu. Die nächsten Folgen sind gekauft.

Klischees? Ein traditioneller Schmunzelkrimi wie „Mord mit Aussicht“ wird von Ihnen als „innovative und junge Serie“ verklärt. Und beim Hinweis auf bahnbrechende US-Serien wie „The Wire“ nennen Sie den „Tatort“.

Der „Tatort“ hat mehr junges Publikum als jede andere Krimireihe.

Aber reicht es, Lebensnähe und ambitionierte Erzählformen an den „Tatort“ zu delegieren?

Wir lehnen uns nicht zurück. Mir ist es auch wichtig, dass an Formaten wie „Tatort“ und „Polizeiruf 110“ immer gearbeitet wird, dass die nicht mit ihrer Farbe mit dem Publikum alt werden, sondern sich selbst erneuern, und das geht ja und das passiert auch – sehen Sie nur den neuen „Polizeiruf 110“ vom BR. Das werden wir auch mit anderen fiktionalen Stoffen machen, etwa am Vorabend. Ich habe mir gerade die ersten neuen „Crime & Smile“-Formate angeguckt, das sind Komödien wie „Hubert & Staller“, die sind schon sehr schräg und fürs Erste ungewöhnlich. So etwas wollen und müssen wir machen, Stillstand ist nicht angesagt.

Interview: Stefan Niggemeier

Stefan Niggemeier ist freier Medienjournalist in Berlin und Kolumnist von „medium magazin“.

www.stefan-niggemeier.de

ZUR PERSON

Volker Herres (57) ist seit 2008 TV-Programmdirektor der ARD. Er studierte VWL, Publizistik und Politik in München und absolvierte zugleich die DJS. Bevor er 1987 zur ARD wechselte, arbeitete Herres beim ZDF. Aus dieser Zeit kennt er auch den künftigen ZDF-Intendanten Thomas Bellut, beide waren Redakteure beim „ZDF-Länderspiegel“. Gemeinsam drehten sie 1986 eine Dokumentation „Zu Fuß über die Alpen. Wanderung durch eine zerstörte Landschaft“ – „hatte über vier Millionen Zuschauer“, behauptet Herres heute.

Studie der Otto-Brenner-Stiftung

Die ARD und ihre Talkshows

Sonntag: Günther Jauch. Montag: Frank Plasberg. Dienstag: Sandra Maischberger. Mittwoch: Anne Will. Donnerstag: Reinhold Beckmann. So sehen ab September die Abende bei der ARD aus.

Bernd Gäbler hat die Talkschiene der ARD für die Otto-Brenner-Stiftung (OBS) untersucht. In seiner Studie „… und unseren täglichen Talk gib uns heute!“ heißt es: „Die genannten Sendungen wollen alle unverzichtbar sein. Sie wollen alle das Thema besprechen, das die Menschen in der Woche am stärksten bewegt hat, und sie wollen dafür die wichtigste, sinnvollste und überraschendste Gästekonstellation finden. Weil dieses Ziel aber allen gemeinsam ist und zugleich die Ressourcen knapp sind, gibt es nicht nur einen härteren Wettbewerb, sondern vor allem eine Inflation. […] Die Verbindlichkeit schwindet. Die Beliebigkeit wächst. Obwohl sich alle einzelnen Sendungen anstrengen werden, dem Zuschauer zu gefallen, obwohl sie ihn umschmeicheln werden, verführen wollen, überrumpeln oder aufrütteln – am Ende könnte sich der Zuschauer selbst entwertet fühlen. Das ist stets die gravierendste psychologische Folge einer Inflation.“

Die Studie ist via OBS kostenlos bestellbar, Detailinfos unter: www.otto-brenner-stiftung.de

http://bit.ly/pxGiHu

Erschienen in Ausgabe 09/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 28 bis 31. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.