Ungewissheit, keine Reflexe

Merle Schwalb ist eine junge Redakteurin, sie hat es für ihr Alter schon ziemlich weit gebracht. Sie arbeitet bei einem großen deutschen Nachrichtenmagazin, seit vier Jahren schon. Sie macht so weit alles richtig, sie ist verlässlich, ihre Geschichten taugen, man kann sie auch nachts anrufen. Bis ins Parlamentsbüro hat sie es immerhin geschafft, noch jedoch zuständig für „Gedöns deluxe“, wie sie es nennt, weiche Themen, Integrationspolitik, Muslime in Deutschland.

Für unsere diesjährige „Top 30 bis 30“-Liste, auf der wir die journalistischen Nachwuchstalente 2011 vorstellen (s. S. 18ff.), taugt Merle Schwalb trotzdem nicht, leider. Zum einen ist sie schon 33, also deutlich jenseits unserer zulässigen Altersgrenze. Zum anderen ist sie eine Fiktion. Ausgedacht von Yassin Musharbash, seines Zeichens „Spiegel Online“-Redakteur mit Schwerpunkt auf dschihadistischem Islam und seit neuestem auch Romanautor. Sein Debüt „Radikal“ erschien im August, und knallte damit zufällig genau in jene Phase, als sich die Medien noch davon erholten, sich selbst geschockt zu haben: erschrocken von den eigenen medialen Reflexen, ein Attentat ausschließlich mit islamistischem Terror in Verbindung zu bringen, statt zu realisieren, dass sich die Perspektive längst hätte weiten müssen. Wie sich Redaktionen in den vergangenen zehn Jahren, seit 9/11, auf das Thema eingestellt haben – und was dabei zu kurz kommt –, hat Musharbash in einem Essay für uns aufgeschrieben (s .S. 36). Gefolgt von einem Auszug aus seinem Roman (s. S. 38).

Merle Schwalbe inklusive. Wie gesagt, sie hätte wunderbar in unsere Liste mit Talenten gepasst – aber dann wäre es noch schwerer gefallen, die Auswahl der Top 30 zu treffen. Die Liste dokumentiert auch, wie professionell multimedial der Nachwuchs mittlerweile aufgestellt ist.

Doch natürlich: technisches Know-how ist nur ein Werkzeug. Wie wichtig ein inhaltliches Fundament, eine verantwortungsvolle Haltung dem Leser, Zuschauer, Zuhörer, Nutzer gegenüber ist, machte unlängst wieder Botho Strauß in einem Essay für die FAZ klar. Er bündelte die Krisen der letzten Monate und die Berichterstattung darüber zu einem Phänomen: Im fehlt wahrhaftige, ernsthafte Aufklärung. Ein Beispiel, das er nennt, ist auch für dieses Heft besonders aktuell. Er schreibt: „Die unzähligen Untätigen der Geschichte aber, die Abend für Abend in den TV-Studios herumlungern und ihre Fertigteil-Sprache absondern, erregen selbst beim breiten und doch feinhörigen Publikum den Verdacht, dass ihre mangelnde sprachliche Ausdruckskraft keinen guten Schluss auf ihre Handlungsstärke zulässt.“ Volker Herres, Programmdirektor der ARD, würde ihm widersprechen. Im Interview über die neue Programmschiene ab Seite 28 schwärmt er etwa von der „intellektuellen Substanz“ seines neuen Polittalk-Quintetts. Wir werden sehen und hören.

„Vielleicht“, fügte Strauß am Schluss noch an, „ist das Jahr 2011 so etwas wie ein zeitlicher St.-Andreas-Graben, in der [sic] die Platte der alten Gewissheiten sich gegen die Platte neuer Ungewissheit mit Getöse verschiebt.“ Es wäre wohl überfällig. Ungewissheit, das sollten wir Journalisten uns immer wieder wie ein Mantra vorbeten, Ungewissheit ist der Kern unseres Antriebs. Noch wichtiger aber: Sich der eigenen permanenten Ungewissheit und Unwissenheit gewiss zu sein, hat etwas zutiefst Sokratisches. Und Sokrates ist sicher nicht das schlechteste Vorbild. Weder für junge Journalisten, noch für alle, die diesen Beruf schon so lange ausüben, dass ihre Reflexe mitunter schneller sind als ihre journalistische Sorgfaltspflicht, Stichwort Terrorismusberichterstattung. Es gebe nur „relative Experten“, so Musharbash.

Dass man unabhängig vom Alter voneinander lernen kann, versuchen uns im Übrigen auch der 18-jährige Rick Noack – der Jüngste unserer Top-30-Riege – und der Ex-Intendant des Deutschlandradios Ernst Elitz zu vermitteln: Wir haben sie um eine Art generationen-umspannenden Blickwechsel gebeten (s. S. 26+27).

Vollkommen ungewiss ist die Zukunft der Nachwuchstalente unserer Meinung nach übrigens nicht: strahlend, natürlich.

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Sie werden es bis jetzt sicher schon gemerkt haben: Ich bin nicht Annette Milz. Die Chefredakteurin befindet sich im wohlverdienten Sabbatical. Bis zur Oktober-Ausgabe, die nun schon traditionell als Doppelausgabe mit der „Journalistin“ erscheinen wird, habe ich die große Ehre und Freude, sie beim „medium magazin“ zu vertreten.

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Erschienen in Ausgabe 09/2011 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 11. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.