Die Talks als Parallelwelt

Sie könne es nicht mehr hören, das Gerede über eine „Talkshow-Inflation“, bekannte Anne Will leicht genervt Anfang September im Nordwestradio. Da lief der „orale Overkill“ (Hans-Ulrich Jörges) in der ARD erst ein paar Tage, mit fünf Talkshows an fünf Abenden die Woche.

Nun, nach einigen Wochen Beobachtung, hat sich die Befürchtung, die Talk-Dominanz könne zu einer Einengung der journalistischen Formen für die Informationsvermittlung führen, vorerst bestätigt.

Dabei hatte sich in der Sommerpause plötzlich programmlich Interessantes getan. Das ZDF erprobte etwa mit einer szenisch anspruchsvollen Rekonstruktion zur „Love-Parade“ eine neue Form des dokumentarischen Fernsehens in der Prime Time und die ARD hatte ihre Magazin-Redaktionen zu etwas wuchtigeren Dokumentationen unter anderem über Massentierhaltung bei Wiesenhof und Niedriglöhner beim Paketdienst Hermes ermuntert. Damit ist Schluss, seit der Talk zur dominierenden journalistischen Form erkoren wurde. Selbst die internationale Dokumentation „Die Guantanamo-Falle“ wurde auf Samstag, 23 Uhr, im NDR verbannt.

„Talk ist geil im Fernsehen, die Leute mögen das“, behauptete ebenso salopp wie kühn der ARD-Programmdirektor. Aber keine der neu platzierten Gesprächssendungen ist ein Quoten-Selbstläufer. Es gibt keinen Drang des Publikums zur Talkshow. Bis auf die Sendung „Günther Jauch“, die am Sonntag wie gewohnt von den hohen Quoten des „Tatorts“ profitiert, haben alle Talk-Sendungen einen Rückgang des Zuschauerzuspruchs zu verzeichnen. Am härtesten hat es Reinhold Beckmann getroffen, obwohl dieser inhaltlich bemerkenswerte Sendungen gewagt hat – etwa zu den „Kindern des Dschihad“ oder in Form eines sehr unterhaltsamen Udo-Jürgens-Solos.

Wichtiger aber als die Quantität sind die Inhalte. Worüber wurde von Ende August bis Anfang Oktober gesprochen? Sieben Mal über den Euro, je drei Talk-Sendungen befassten sich mit dem Papst, Burnout und Alter/Rente. Gerade noch 30 der 152 Gäste in den ersten 32 Sendungen waren aktive Politiker. Im Drang nach Popularität bevorzugen inzwischen alle Talkmaster ihresgleichen als meinungsstarke Gäste: Medienleute – Journalisten, TV-Moderatoren, Schauspieler, Autoren, Fernsehköche – sind längst die am stärksten vertretene Gästegruppe. So wird mit Sonya Kraus, Lady Bitch Ray und Alice Schwarzer über Geschlechterverhältnisse gesprochen, mit Charlotte Roche über Tabus, mit einem Fernsehkoch und einer Schauspielerin über Jugendgewalt, mit RTL-Größen über sozialen Aufstieg, mit Rolf Eden und Ruth-Maria Kubitschek über das Altern, mit Carlo von Tiedemann, Karl Moik und Hans-Joachim Fuchsberger über Volkskrankheiten und Gesundheit, flankierend dienen Anja Kohl (ARD-„Börsengesicht“) und Dirk Müller („Mister Dax“) dem Nachweis von Wirtschaftskompetenz und Ernst Prost (Liqui Moly) und Wolfgang Grupp (Trigema) geben den Prototyp des Unternehmers ab. Alle Talks wollen einen „weiten Politikbegriff“, reklamieren, die „Lebenswirklichkeit“ des Publikums abzubilden. Tatsächlich sind es weitgehend stereotype Figuren, die die „Meinungssegmente“ in den zuschauergerecht optimierten Abläufen auffüllen. Beim Talk ist ein nochmaliger Schub hin zur Unterhaltung feststellbar. Sandra Maischberger, Frank Plasberg und Anne Will, die sich alle von politischen Interviewern zu polyvalenten TV-Unternehmern entwickelt haben, talken nicht mehr substanziell anders als Markus Lanz. Die Redaktionen sind besessen von der Idee, gerade im Talk müsse sich das Fernsehen als Massenmedium bewähren. So entstehen eingeengte Themen-Cluster und die immer gleichen Gäste-Typologien. Statt neugieriger Erkundung der Gesellschaft und bereichernden Austauschs von Argumenten hat sich in den zum Ritual neigenden Talkshows ein mediales Paralleluniversum entwickelt.

Alles folgenlos bequatschen

Wichtiger aber als die Frage, was diese Sorte Talk für das Fernsehen bedeutet (mindestens eine Innovationsbremse), ist natürlich, was er mit der Gesellschaft macht. Zunächst stellt er das menschliche Gespräch als einen weitgehend plakativen Vortrag von Statements dar, mit Entweder-Oder-Fragen im Zentrum. Klare Positionen sind gefragt, gedankliche Suchbewegungen allenfalls als Pose zugelassen. Mit tatsächlicher politischer Entscheidungsfindung, mit den komplexen Verästelungen unserer Verhandlungsdemokratie hat das immer weniger zu tun. Umso beliebter ist es, diese „Realpolitik“ als ohnehin abgehoben vorzustellen. Entsprechend kommen verantwortliche Minister, mächtige Unternehmer und Banker, relevante Wissenschaftler oder außerparlamentarische „Bewegungsmelder“ in den Talkshows kaum noch vor. Trotz aller „Faktenchecks“, Chats und Youtube-Kanäle rütteln sie nicht wach, ermuntern nicht zur Partizipation, sondern wirken wie ein Sedativ, weil allerlei Leute alles folgenlos bequatschen.

Weniger wäre mehr. Das Live-Ereignis müsste im Vordergrund stehen, nicht das Formatierte. Gäbe es doch nur einmal im Monat eine kraftvolle politische Dokumentation in der Prime Time! Die Reportage müsste ästhetisch belebt werden. Wo wird darüber nachgedacht, wie der „Maschinenraum der Politik“ zu visualisieren ist, wie Erkenntnis stiftende politische Portraits zu gestalten sind, wie investigative Energien gebündelt werden können? Die Talkshows binden Kräfte an der falschen Stelle.

Bernd Gäbler,

Journalist und ehemaliger Geschäftsführer des Adolf-Grimme-Instituts, hat für die Otto-Brenner-Stiftung das neue talklastige Programmschema der ARD analysiert. Seine Studie „… und unseren täglichen Talk gib uns heute!“ ist kostenlos erhältlich unter: www.otto-brenner-stiftung.de

Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 36 bis 37. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.