Wenn einem schon gar nichts mehr zur Schuldenkrise einfällt, dann muss man nur auf Günther Oettinger warten. Der EU-Kommissar schlägt doch allen Ernstes vor, als Disziplinierungsmaßnahme die Flaggen der Schuldensünder vor EU-Gebäuden auf Halbmast zu setzen. Das hätte einen „hohen Abschreckungseffekt“, sagte der selbst ernannte Euro-Retter.
Suche nach einer eigenen Sprache
Man wird mit weiteren derart aberwitzigen Beiträgen rechnen dürfen, weil die Menschen die Krise und ihre Ursachen nicht verstehen – trotz der täglichen Erklärungsversuche am Fernsehschirm und einer ausführlichen Berichterstattung in den Printmedien. Je mehr aber gesagt und geschrieben wird, umso ratloser wird das Publikum.
Ursache der Ratlosigkeit ist die Sprache der politischen und finanzwirtschaftlichen Eliten, die Journalisten beinahe kritiklos übernehmen. Es ist PR-Gesäusel, das Hirne vernebelt und den klaren Blick auf das Wesentliche blockiert. Die Wortkünstler der Finanzwelt können sich auf die Schenkel klatschen: Sie machen ganze Arbeit. Politiker und Banker, Börsenmakler und Finanzminister plappern die Begriffshülsen nach und Journalisten setzen ihnen keine eigene Sprache entgegen.
Rettungsschirm – was muss man sich darunter vorstellen? Einen Regenschirm, weil es in der Krise auf uns herabregnet? Das Bild eignet sich nicht für die grausame Realität. Ein Rettungsschirm ist eine Bürgschaft, reiche Staaten bürgen für die Schulden der armen Staaten. Der Finanzminister sattelt noch einen drauf und spricht von EFSF (Europäische Finanzstabilisierungsfazilität), wenn er den aktuellen Rettungsschirm meint, und von ESM (Europäischer Stabilisierungsmechanismus), wenn er die künftigen, dauerhaften Bürgschaften meint. Muss jetzt etwa für alle Zeiten gebürgt werden? Hört die Krise also niemals auf?
So schnell jedenfalls nicht. Und wer ist schuld? Die Spin Doctors der Finanzwelt erwecken jedenfalls den Eindruck, auch Menschen wie du und ich, die ihr Geld rentierlich anlegen wollen, seien Zocker – und deshalb mitverantwortlich für die Krise. Ein höchst fragwürdiger Versuch, vom angerichteten Scherbenhaufen der „Short Seller“ und „Junk Bond Dealer“ abzulenken. Der Durchschnittsanleger ist Opfer, nicht Täter. Er zahlt mit höheren Zinsen und niedrigeren Renten – und wird dann noch verhöhnt.
Schon greifen griechische Schriftsteller die fragwürdige PR-Semantik auf. In seinem hochaktuellen Roman „Faule Kredite“ spottet Krimi-Autor Petros Markaris über ein ausgesprochen hässliches Finanz-Kürzel, das die Schuldnerländer Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien als „PIIGS“ – in Anlehnung an „Pig“ – verleumdet: „Aber im Schweinestall lebt es sich immer noch besser als im Haifischbecken. Bislang haben wir versucht, dort mitzuschwimmen, aber wir sind kläglich abgesoffen. Schweine können eben nicht schwimmen.“ Sarkasmus pur.
Volatile Blutbäder
Die Geschichte könnte in der vernebelnden Sprache nahtlos weitergeschrieben werden: Wenn die „PIIGS“ nicht mehr zahlen, droht die kalte Einführung der „Transferunion“ und mit ihr eine hohe „Volatilität“ der Märkte, die die Anleger in die „Fluchtwährung“ treibt. So angstgesteuert liegen an der Börse die „Nerven blank“, fällt der Dax unter die „psychologisch wichtige Marke“ und findet sich nach seinem Absturz in einem „Blutbad“ wieder. Alles Originalton.
Verstehen muss man das nicht. Verstehen könnte man das aber, wenn die Medien ihre historische Chance erkennen würden. Und dazu braucht es nicht viel:
Erstens, sie müssen die interessegeleitete PR-Rhetorik der Krisenpolitiker entzaubern und, zweitens, die irreführenden Begriffsschöpfungen aus den Finanztempeln dorthin befördern, wo sie hingehören: auf den semantischen Müllhaufen.
64 Prozent der Bundesbürger glauben längst nicht mehr an die fachliche Kompetenz der Politiker in der Finanzkrise. Ihre Erwartungen richten sich eher an die Wirtschafts- und Finanzpresse. Nachdem es die Medien schon zwei Mal nicht geschafft haben, das Publikum vor einer drohenden Finanzkrise zu warnen, könnten sie wenigstens versuchen, in der gegenwärtigen Sprachverwirrung wieder Glaubwürdigkeit aufzubauen – mit Klarheit und Wahrheit.
Dann wäre die Krise zwar nicht besiegt, aber immerhin besser verstanden. Und die Journalisten könnten aus dem Sumpf, den selbstsüchtige Finanzakrobaten mit ihren PR-Bütteln hinterlassen haben, als wahre Helden aufsteigen. Könnten.
Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 48 bis 48 Autor/en: Anton Hunger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.