Wenn objektiver Journalismus auf eine Scharfschützin trifft

Tripolis. Auf Lesereisen mit meinem „Tagebuch der arabischen Revolution“ erlebe ich immer wieder, wie von zuhörenden Journalisten mehr Objektivität eingefordert wird. Nach zwei Jahrzehnten Arbeit und Leben in Ägypten war es mir unmöglich, am Tag des Sturzes von Mubarak als Journalist nicht mitzufeiern, hatte ich doch selbst miterlebt, wie Polizeibrutalität und staatliche Willkür jahrzehntelang zum Alltag gehörten. So konnte es einen nicht vollkommen kalt lassen, als die Menschen auf dem Tahrir-Platz furchtlos auf die Polizeiketten zustürmten und die Polizisten dann auch noch wegliefen.

Manchmal wird das Konzept des objektiven Journalismus auch mit Distanz zum Objekt gleichgesetzt, über das man berichten soll. Besser den Tahrir-Platz vom journalistischen Heißluftballon aus zu beschreiben, als mittendrauf zu stehen, und über die Leiden, Freuden und Sorgen der Menschen zu schreiben, aus Sorge, man könnte sich mit ihrer Sache gemeinmachen. Eigentlich wäre guter Journalismus doch gerade das Gegenteil: möglichst nah dran zu sein.

Es gibt auch Situationen, da funktionieren zunächst überhaupt keine journalistischen Kategorien mehr. Etwa als ein Arzt in einem Krankenhaus in Tripoli erzählte, dass einen Trakt weiter ein Scharfschütze Gaddafis liege. Natürlich wurde da sofort der journalistische Instinkt für eine gute Geschichte geweckt. Doch beim Eintritt ins Krankenzimmer war ich geschockt, weil dort ein 19-jähriges Mädchen in einem Bett lag, das sie mit ihrem zierlichen und schwerverletzten Körper kaum ausfüllte. Sareen erzählte, wie sie auf der Flucht vor den Rebellen vom Dach eines zweistöckigen Gebäudes gesprungen war. Sie sprach langsam und unter schweren Schmerzen. Auf die Frage, wie es ihr nun gehe, jung, schwerverletzt, Gaddafi auf der Flucht, brach das Mädchen in Tränen aus.

Was soll man über Sareen denken? Sie tat mir leid, schwerverletzt, ihr junges Leben ruiniert, ein Opfer. Oder doch eine Täterin? Wie viele Menschen hat sie auf dem Gewissen, die sie versteckt auf einem der Dächer von Tripoli erschossen hat? Vielleicht tauchte er da plötzlich wieder auf, der objektive Journalist, der beide Seiten betrachtet. Auch wenn ich mich eigentlich eher hilflos fühlte, als ich aus dem Krankenzimmer von Gaddafis Scharfschützin heraustrat, weil meine Kategorien, wie ich mir die Welt erkläre, in Situationen wie diesen einfach nicht greifen. Das ist dann die Grenze des Journalismus, egal ob objektiv, nah dran oder sonst irgendwie. Vergessen werde ich den Anblick des Mädchens jedenfalls nie mehr. http://blogs.taz.de/arabesken

Erschienen in Ausgabe 10-11/2011 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 14 bis 14. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.