„Bilder auf dem iPad, das ist wie Diaschau gegen Foto-Pappschachtel“, sagt Günter Beer. Der in der Nähe von Barcelona lebende Food-Fotograf ist begeistert von der Brillanz, mit der Fotos auf dem Tablet-PC erscheinen, dank der implementierten Hintergrundbeleuchtung. Insgesamt sieben Apps hat er mit seiner Firma Buenavista Studio bisher produziert. Dabei hat er sich als Fotograf konsequent auf die erweiterten Möglichkeiten eingestellt, die Apps bieten: „In meiner neuesten App ‚Go Veggie!‘ haben wir die Teller aus zwölf verschiedenen Blickwinkeln fotografiert. Mit einem Slider kann man den Teller drehen und alle Zutaten und deren Schnittformen sehen“, erklärt er, wie er sich fotografisch der narrativen Logik der Koch-App genähert hat. Günter Beer hat verstanden, dass Applikationen einen Nutzwert bieten sollten: Im Supermarkt stellt man sich per iPhone den Einkaufszettel zusammen und lässt sich am Herd die Kochschritte vortragen. Und wer etwa Lust auf Auberginen hat, findet per Volltextsuche die dazu passenden Rezepte.
„Apps können alles vermitteln – nur keinen Geruch“, sagt Inga Griese, Chefredakteurin von „The Iconist“, einem Lifestyle-Magazin des Springer-Verlags in App-Format. Griese spielt damit auf die Illustration einer Parfum-Geschichte in der neuesten Ausgabe an. Berührt der Leser eines der abgebildeten Flakons, entweicht ihm mit einem Zischen die Liste der Inhaltsstoffe, wo weitere Informationen über jeden einzelnen Stoff abrufbar sind. „Dass sich durch Apps die Fotografie grundsätzlich geändert habe, wäre sicher übertrieben, aber aufgrund der enormen Bildqualität auf dem iPad lassen sich die Bilder ganz anders genießen“, sagt Inga Griese. Das zeige sich besonders beim Hineinzoomen in die Bilddetails, die besonders gut die handwerkliche Qualität von Luxusartikeln verdeutlichen.
In Vuitton-Vitrinen stöbern
„The Iconist“ ist keine Umgestaltung eines Printobjektes, sondern ein eigens als App produziertes Produkt – erstmals von einem Großverlag realisiert. „Wir sind Geschichtenerzähler, und das kann man mit den Apps besonders gut“, glaubt Chefredakteurin Griese: „Wir nehmen den Leser in eine Welt mit, die ihm normalerweise verschlossen bleibt.“ Einige Beispiele: Videointerviews wechseln sich mit Bildsequenzen von der Produktion von Luxus-Porzellan in einer Manufaktur ab. Oder: Per 360-Grad-Panoramabild schlendert der Leser virtuell durch das Louis-Vuitton-Museum, nähert sich den Vitrinen und ruft Informationen über die Taschen auf. Ähnlich wie bei Stereogrammen, die guten, alten Wackelbilder, lässt sich bei einer anderen Story zwischen den Fotos von Lady Gaga und denen des kommentierenden Karl Lagerfeld hin und her wechseln. „‚The Iconist‘ ist ein Magazin, das wirklich lebt – vor allem durch die Bilder. Denn das Format wird durch die Optik geprägt“, meint Inga Griese: „Die Möglichkeiten sind fantastisch und wir lernen mit jeder Ausgabe dazu.“
Dass sich mit dem elektronischen Publizieren ein neuer Markt für Fotografie auftut, hat auch Jürgen Schrader erkannt. Der Fotograf produziert fast ausschließlich 360-Grad-Panoramaaufnahmen, die erst am Bildschirm ihren Reiz entfalten. Solche aus mehreren Einzelbildern zusammengefügten Fotos bieten wahre Entdeckungsreisen. Ob vom Schloss Sanssouci oder im Salzstock von Morsleben – seine Bilder erlauben, interaktiv in den Bildräumen zu navigieren, den Blick in alle Richtungen schweifen zu lassen. „Diese Bilder lassen den Betrachter ins Geschehen eintauchen und vermitteln unmittelbare Erlebnisse“, sagt Schrader. Die Abkehr vom Einzelausschnitt, der vom Fotografen bestimmt ist, hin zu visuellen Gesamträumen, erfordert neue Herangehens- und Arbeitsweisen – nicht nur technisch, sondern auch konzeptionell.
Jens Radü, Leiter des Multimedia-Teams beim „Spiegel“, nutzt Panoramen von Jürgen Schrader und anderen für die wöchentlichen Apps. „In jeder Ausgabe präsentieren wir unseren Lesern mindestens ein 360-Grad-Panoramafoto. Auf dem iPad wirken sie wie ein Fenster zur wirklichen Welt, das auch noch mit Audio-Kommentaren bereichert wird“, sagt er. Die „Spiegel“-App, die Ende des Jahres gerelauncht wird, setzt nicht nur auf 3D-Modelle und interaktive Grafiken, sondern auch auf zahlreiche Video-Reportagen. „Wir verfolgen ein Konzept des komplementären multimedialen Erzählens, wobei alle unsere multimedialen Stücke im Kontext einer Geschichte stehen“, erklärt Jens Radü.
Damit eröffnet sich für Fotografen ein neues Aufgabenfeld. Beim „Spiegel“ – ebenso wie beim „Stern“ – wünscht man sich Fotografen, die zusätzlich O-Töne und Videomaterial liefern können. Die WAZ ist damit schon sehr weit. Sämtliche der über 20 festen Fotografen sind nach professioneller Schulung in der Lage, Bewegtbilder als lokalen Content für die regionalen Portale zu drehen – derzeit sind es etwa 60 Videos im Monat. Auch in der neuen WAZ-App, die gerade entwickelt wird, sollen sich Bilder bewegen können. „Die Bereitschaft der Fotografen, sich dem Thema Video anzunehmen, war extrem hoch“, sagt Ilja Höpping, Chef vom Dienst des WAZ-Foto-Pools. Er ist überzeugt: „Die Optik bekommt in den elektronischen Medien ein immer größeres Gewicht.“
Beim Thema Bewegtbild zeigt sich allerdings ein Widerspruch. So gerne Verlage Video einbinden möchten und so begeistert viele freie Fotojournalisten sich mit multimedialem Storytelling beschäftigen, so wenig spiegelt es sich allgemein in den Medien wider. Von 90 Fotografen, die beim Fotografenverband Freelens Multimedia-Workshops absolviert haben, dreht kaum jemand Videomaterial im redaktionellen Zusammenhang. Einige produzieren für PR oder Werbung, die Überzahl arbeitet an eigenen Projekten.
Viel Aufwand, wenig Honorar
Workshopleiter Uwe H. Martin sieht die Diskrepanz im Finanziellen. „Die Verlage sind in der Regel nicht bereit, den im Vergleich zu Print ungleich höheren Aufwand für Multimedia-Storytelling zu bezahlen. Redaktionelle Auftragsproduktionen lohnen sich für Fotografen absolut nicht.“ Die Verlage retten sich häufig mit günstigen Varianten. Sie setzen einen Fotografen oder Autor vor die heimische Videokamera, mischen das so entstandene Interview mit einigen tollen Fotos, die der Fotograf mitgebracht hat – fertig ist der Bewegtbild-Content. Natürlich kann das sehr interessant sein, doch als Standardverfahren für multimediales Geschichtenerzählen reichen solche Making-Ofs allein nicht.
Da mag es für Fotografen ein Trost sein, wenn elektronische Medien ihnen wenigstens wieder die Möglichkeit bieten können, Geschichten in vielen Bildern zu erzählen: Eine Strecke mit vielleicht acht im „stern“ abgedruckten Fotos kann im E-Magazin des „stern“ schon mal mit 30 Fotos publiziert werden. Ähnlich läuft es beim „Spiegel“: „Optisch ist die App viel opulenter als der gedruckte, Spiegel‘“, erzählt Jens Radü: „Raum ist vorhanden, ebenso die guten Fotos. Während im Print der Platz Mangelware ist, können wir auch optisch Experimente machen.“ Allerdings räumt Jens Radü ein: „Multimediales Erzählen steckt auch bei den Apps noch in den Kinderschuhen.“
Doch die immer noch getrennt betrachteten Medien, stehende und bewegte Bilder, Ton, Grafik und Animation gepaart mit 3D-Elementen und virtueller Realität, werden zusammenwachsen – und zwar rasant. Der Leser und App-Nutzer wird es bald auch schlicht erwarten.
Spätestens dann ist interdisziplinäres Arbeiten Alltag. Besonders bei Projekten von Freien bekommt man schon eine Ahnung, wie das in Zukunft aussehen könnte. Zum Beispiel das mehrfach ausgezeichnete Projekt „Highrise“ vom National Film Board of Canada, das mit
seinen verzweigten Erzählsträngen von unterschiedlichen Hochhausgeschichten ein kleines Universum schafft. Sicher ist: Die Arbeitswelt der Fotografen wird komplexer und inhaltlich anspruchsvoller. Darin sehen viele Fotografen eine Chance.
Beim Food-Fotografen Günter Beer ist diese Zukunft bereits angekommen. Mit Apps bestreitet er einen wesentlichen Teil seines Lebensunterhaltes. Seine App „Kochen!“ erreichte Platz fünf im Apple-Rewind unter den Lifestyle-Apps fürs iPad, obwohl sie mit 7,99 Euro zu den teueren zählt; und „Yoga2go“ war monatelang unter den ersten zehn in seiner Kategorie. „Derzeit verschieben sich die Kräfte zugunsten der kreativen Urheber gewaltig“, sagt Beer: „Verlage, die unsere Inhalte nur noch wie Zwischenhändler packagen – sie nennen es ‚veredeln‘ –, braucht es beim digitalen Publizieren immer weniger.“
Spartenübergreifende Kollektive von Fotografen, Autoren, Grafikdesignern und Musikern können gemeinsam mit geringem finanziellen Risiko neue und komplexe Projekte erstellen und über Internetplattformen wie iTunes oder dem Android Market an Endkunden verkaufen. Günter Beer ist überzeugt: „Es beginnt eine gute Zeit für uns Inhalteschaffende.“
Link:tipps
Go Veggie!: App bei iTunes, 3,99 Euro.
„The Iconist“: App bei iTunes 1,59 Euro.
www.theiconist.de
Multimedia-Reportage „Highrise“:
www.highrise.nfb.ca
Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 38 bis 41 Autor/en: Manfred Scharnberg. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.