Bloß nicht singen!

Es war Ende November, sie standen mit ihren fetten Zeitungspacken im Berliner Verlagsviertel und verteilten die Blätter kostenlos. „Die Wahrheit“, stand in Großbuchstaben auf den riesigen Titelseiten, mehr nicht. Die Schrift serifenlos, wie üblich, wenn die Schlagzeile nach einer klaren Ansage aussehen soll.

Und die Ansage kam. Auf 24 Seiten. Aufrüttelnd, witzig, gut gemacht. Man kenne die Regeln der Kommunikation und sei darauf aus, sie zu brechen, wann immer man könne. Das Ganze kommt aus dem Haus der Werbeagentur „Zum Goldenen Hirschen“. Die Kampagne – nur Werbung. Für sich selbst. Hier wurde einmal aus dem Vollen geschöpft, um es einmal für alle in der Medienbranche vorzurechnen: Qualität bringt Geld, aber Qualität kostet Geld. „Willkommen im Neuland“, heißt es in jenem „Goldenen“ Blatt, „in einer unvorhersehbaren, kaum mehr planbaren Welt. Kein Königsweg führt Euch hindurch. Die alten Karten gelten nicht mehr. Und ganz egal, wo ihr hintretet, die Schwarmintelligenz der sozialen Medien verzeiht keinen Fehler.“ Und dann, Fanfaren: „Willkommen im postdigitalen Zeitalter“.

Mit einem nebulös in den Raum geworfenen „Social Irgendwas“ ist es in unserer Branche ja längst nicht mehr getan (s. „Blasen und Phrasen“, unsere Sprachkolumne von Christian Meier und Stefan Winterbauer, S. 66).

Die Zukunft, sie ist doch längst da.

Diesem Gedanken ist dieses Heft gewidmet, die alljährliche Zukunftsausgabe von „medium magazin“ im Dezember. Dass dieser so oft phrasenhaft beschworene Qualitätsjournalismus vielleicht tatsächlich an Priorität gewinnt, sieht man am Investigativverein Netzwerk Recherche: Wie die neuen Vorsitzenden Oliver Schröm und Markus Grill den Laden neu aufstellen wollen, erzählen sie im ersten gemeinsamen Interview (s. S. 18ff). Dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen, macht einem spätestens der chinesische Blogger Michael Anti klar, der tagtäglich tricksen muss, um die staatliche Zensur zu umgehen (s. Seite 50).

Mal ehrlich, „willkommen im postdigitalen Zeitalter“, das klingt verdächtig nach jener Bizarrerie, von der Autor und Blogger Peter Glaser im Doppelinterview mit Autorin Kathrin Passig erzählte (s. S. 26): nach einer Normalität, in der Texte auf der Basis von Algorithmen automatisiert aus Versatzstücken zusammengesetzt werden. Die Management-Etagen von Verlagen werden da vielleicht vor Freude die Zähne blecken. Wer braucht da noch Journalisten.

Auch wenn’s noch nicht so weit ist: Dass Journalisten eine Risikogruppe für Burnout darstellen, dürfte schon heute kaum jemanden überraschen. Sicher, das Thema flackert derzeit überall, Themenwochen im Fernsehen, Burnout-Talk bei Plasberg, selbst im empfehlenswerten Kunstmuseum Wolfsburg läuft gerade eine Ausstellung namens „Die Kunst der Entschleunigung“. Man fühle sich von dieser medialen Überdosis Burnout schon ganz ausgebrannt, lästerte unlängst unser Kolumnist Stefan Niggemeier in seiner neuen „Spiegel“-Medienkolumne.

Doch auch, weil dieser Druck nach immer mehr und immer schneller fester Bestandteil unseres Geschäfts geworden ist, trägt das Gespräch mit den beiden hochgeschätzten Internet-Vordenkern Glaser und Passig die Überschrift „Mensch & Maschine“. Oder sagen Sie bloß, die Vorstellung von Newsrooms ohne Telefone klingt nicht verlockend! Einige Zeitungen praktizieren das schon, wie Robert Domes für uns recherchiert hat (s. S. 60).

Diese Imagekampagne – vielleicht brauchen die Medien das auch einmal. Aber eine, die mitreißt, für die man fröhlich Pamphlete auf der Straße verteilt. Und die eine Stimmung kreiert, in der es nicht nur absolut realistisch erscheint, dass Verlage und Sender ihre Autoren und Redakteure fair bezahlen, sondern auch, dass Leserinnen und Leser, Nutzerinnen und Nutzer Qualität als Qualität erkennen – und bereit sind, dafür auch Geld auf den Tisch zu legen. Etwa so sympathisch freiwillig wie Peter Glaser und Kathrin Passig, die Bloggern und Online-Magazinen monatlich Geld überweisen, weil sie die Angebote wichtig und nützlich finden. Auf der anderen Seite erklärt Passig, dass sie seit vielen Jahren keine Zeitung mehr abonniert und gekauft hat – und stellt nüchtern fest: „Ich bin als Leser der Mensch, von dem ich als Autor nicht leben kann.“

Die dümmsten Fehler scheint die Branche ja mittlerweile zu erkennen, sogar der etwas starrsinnige Jahreszeitenverlag ließ sich nun, Ende November, darauf ein, die geradezu unverschämten Rahmenverträge mit freien Autoren auszusetzen. Vorerst. Praxistipps im Umgang mit derartigen Verträgen gibt es übrigens ab Seite 64.

Banal, aber ein Anfang: Für die Zukunft gilt also erst einmal, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, wie es auch Zeitungsdesigner Juan Señor in seinem Beitrag über neue Redaktionsstrukturen fordert (s. S. 46). Oder um es mit den Jungs vom „Goldenen Hirschen“ zu formulieren: „Wer nichts zu sagen hat, bloß nicht singen!“

In diesem Sinne: fröhliche Feiertage!

Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.