Darf man … Quellen vergessen?

von Stefan Niggemeier

Lesen macht schlau. Ende Oktober las Josef Joffe, der Herausgeber der „Zeit“, in der „New York Times“ einen Artikel darüber, wie die Menschen in der vermeintlichen Dienstleistungsgesellschaft der USA immer mehr Dinge selbst machen: Möbel zusammenschrauben, Automaten bedienen, Lebensmittel scannen. Danach kam ihm eine Idee, wovon seine nächste Kolumne im „Handelsblatt“ handeln könnte. Er schrieb über die andere Art des Outsourcings von Arbeit – nicht nach China, sondern an uns selbst: die wir Möbel zusammenschrauben, Automaten bedienen, Lebensmittel scannen.

Man täte Joffe unrecht, wenn man seine Kolumne als bloße Kopie und Übersetzung beschriebe. Aber man täte auch Craig Lambert, dem Autor des „New York Times“-Artikels, unrecht, wenn man nicht anerkennen würde, dass die Kerngedanken der Joffe-Kolumne, mehrere Beispiele, einzelne Fachbegriffe, teilweise selbst der Aufbau von ihm stammen. Joffe aber hat Lambert in seinem Text diese Anerkennung verweigert. Er gibt die Gedanken als seine eigenen aus. Lambert kommt zwar in Joffes Text vor, aber nur anonymisiert und in überaus kryptischer Form als einmaliger Stichwortgeber.

Nun kann man darüber diskutieren, ob es sich hier um ein Plagiat im wissenschaftlichen oder gar urheberrechtlichen Sinne handelt. Das Online-Magazin „The European“, das den Fall unter der Überschrift „So nicht, Herr Joffe!“ veröffentlichte, nimmt lesbar empörungswillig größten Anlauf, kann sich aber nicht einmal zu der Dachzeile „Plagiatsverdacht im, Handelsblatt‘“ durchringen, ohne vorsichtshalber ein Fragezeichen hinzuzufügen.

Aber es geht hier nicht um eine juristische, literarische oder wissenschaftliche, sondern eine ethische Wertung: Ist die Selbstbedienungsmentalität des Großjournalisten Joffe anständig? Er hat auf die „European“-Vorwürfe in einem langen, unfassbar eitlen Artikel an selber Stelle reagiert. Ein Unrechtsbewusstsein ist daraus nur mit größtem Wohlwollen abzuleiten. Mit einer Strategie, die er sich womöglich auf Kinderspielplätzen abgeguckt hat, verspricht er trotzig-ironisch, dann eben keine Artikel mehr ohne „längliche Fußnote“ zu veröffentlichen, in der er allen und jedem für Inspiration und Animation dankt, darunter Google für das Fact-Checking. Er bestreitet nicht, dass der „New York Times“-Artikel ihn zu seiner Kolumne „inspiriert“ habe, betont aber, dass er eben genau dieselben Erfahrungen gemacht habe wie der amerikanische Autor: „Stehen Erfahrungen, die man selber macht, unter Copyright?“ Schließlich argumentiert er, dass die „besseren Gazetten“ in den Vereinigten Staaten zwar „nie ein Zitat einfach nur aus einem anderen Blatt übernehmen“, sondern immer die Quelle nennen würden; hier aber sei „diese Weglassung Routine“.

Das ist eine schlechte Entschuldigung, aber wahr. Eine selbstverständliche Nennung von Quellen würde kaum zu endlosen Fußnotenlisten führen – aber dazu, dass manche Geschichte deutlich weniger exklusiv daherkommt. Es wäre ein Akt der Ehrlichkeit. Ein typisches Beispiel ist ein langes Stück im „Manager Magazin“ über den aggressiven neuen Kurs von Google: Beide Autoren scheinen – trotz der Ortsmarke „Hamburg“ – beste Kontakte zu den Verantwortlichen in Kalifornien zu haben, mit vielen Beteiligten persönlich gesprochen zu haben. Sie beschreiben ein Wandgemälde am Firmensitz, lassen es erklären: „… sagt Projektleiter Vic Gundotra.“

Gesagt hat Gundotra das Zitierte aber schon ein Jahr zuvor. Und nicht gegenüber dem „Manager Magazin“, sondern Stephen Levy, einem Redakteur der Zeitschrift „Wired“. Der kommt zwar auch im „Manager Magazin“-Stück vor – als Autor eines Buches über Google. Aber wie sehr sich der Artikel darauf stützt, erfährt der Leser nicht. Das „Manager Magazin“ erzählt etwa, wie Google-Design-chef Douglas Bowman nachweisen wollte, ob eine bestimmte Linie drei, vier oder fünf Pixel breit sein sollte, und hat auch ein Zitat des Mannes dazu: „‚Ab einem bestimmten Punkt werden Daten zu einer Krücke für jede Entscheidung und lähmen das Unternehmen‘, klagt Bowman (…).“ Wer würde ahnen, dass diese Worte schon aus dem März 2009 und aus Bowmans Blog stammen? Leser der „New York Times“ haben diesen Wissensvorsprung: Dort wurde in einem Artikel zum Thema die Quelle nicht nur selbstverständlich genannt, sondern auch verlinkt.

Quellenangaben sind nicht nur ein Ausdruck von Fairness und Transparenz, sie sind auch ein Service für den Leser. In einer Zeit, in der sich nicht nur Journalisten Informationen zusammengoogeln können, dienen sie als Wegweiser und bieten dem Interessierten die Chance, tiefer in ein Thema einzusteigen. Und eigentlich sind Medien die letzten, denen man den Wert von Quellenangaben erklären müsste: Sie berauschen sich sogar regelmäßig an Hitlisten, in denen die „meistzitierten“ Medien gekürt werden. Doch ist in Deutschland die Unsitte, Formulierungen wie „sagte er in einem Interview“ für eine Quellenangabe zu halten, immer noch weit verbreitet. Leichter fällt es deutschen Journalisten gelegentlich, ihre Quellen zu nennen, wenn die einen Fehler gemacht haben. Dann ist es ihnen plötzlich wichtig, darauf hinzuweisen, dass sie die Information, die sich als falsch entpuppt hat, bloß etwa von einer Agentur übernommen haben. Solange sie zu stimmen schien, durften die Leser ruhig glauben, sie hätten sie selbst recherchiert.

medium:online

Die entsprechenden Links zum Thema finden Sie unter www.mediummagazin.de

Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein, die Themen dieser Kolumne online zu diskutieren unter: www.facebook.com/mediummagazin

Sie können uns auch Fragen zum Thema „Darf man …?“ schicken an: redaktion@mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 12/2011 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 81 bis 81. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.