Die Kunst, Kunst zu beschreiben

Sie steht fröstelnd im Berliner Mauerpark, mitten in Prenzlauer Berg, und spricht in die Kamera: „Ich begrüße Sie heute zu unserer Reihe Kultur, Ökologie und Alltag. Hinter mir ist der Aktionskünstler Iepe Rubingh seit einiger Zeit damit beschäftigt, nach Öl zu bohren.“ Dr. Hanna Blum ist Kulturjournalistin. In ihren Sendungen stellt sie nicht nur Kunst-Performances vor, in denen ein Ölturm mitten im Szenebezirk auf unseren liederlichen Umgang mit Rohstoffen hinweisen soll. Sie parliert in ihren Diskussionssendungen über Subjektwerdung und das immanente Selbst, besucht verkopfte Robert-Wilson-Inszenierungen und sitzt im Deutschen Ethikrat, über Stammzellenforschung streitend.

Hanna Blum ist die Protagonistin in Tom Tykwers letztem Film „Drei“. So also stellt sich die Kunst eine Kulturjournalistin von heute vor: als eine, die sich permanent die Welt über die Kunst erschließt, und vor allem permanent auf akademischem Niveau spricht. All die Kulturjournalisten, die über den Film schrieben, sahen vor allem die „Ménage à trois“, die bisexuelle Erotik, klar, Sex sells. Aber nicht, dass Tykwer ihnen einen extremen Typus der eigenen Profession vorhielt, leicht an der Persiflage vorbeischrammend.

Carlo Imboden würde Hanna Blum vermutlich sofort entlassen. Der Readerscan-Erfinder, der vor sieben Jahren mit seiner neuen Methode die Zeitungsrezeptionsanalyse umkrempelte, hält gar nichts vom kryptischen Duktus vieler Kulturformate. „Diese nebulösen, nobelpreisverdächtigen Überschriften taugen nichts“, bescheidet er knapp. „Die Kulturredakteure sind alle hochspezialisiert, verstehen aber wenig von Vermittlung.“ Die Zeitung überlebe „mit 100-prozentiger Sicherheit“ nur, indem sie auf massentaugliche Phänomene setze statt auf eventgesteuerte Berichterstattung. Das sagen seine Zahlen.Feuilleton als Retter der Zeitung

Das Ringen um einen modernen Kulturjournalismus spielt sich irgendwo im Dazwischen ab: zwischen einem akademisch-verkopften Anspruchsfeuilleton einerseits und einem auf Massentauglichkeit ausgerichteten Kulturressort andererseits. Der Kulturbegriff hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Paradebeispiel ist das Debattenfeuilleton der FAZ, das zuletzt etwa die Diskussion um Thilo Sarrazins Thesen mit voller Verve betrieb. Es beweist, dass die Auseinandersetzung mit der Kultur einer Gesellschaft das Fundament politischer Berichterstattung ist – auch deshalb wurde Frank Schirrmacher vom „medium magazin“ gerade zum Kulturjournalisten des Jahres 2010 gekürt. In einer heterogenen Öffentlichkeit wie der unseren sei es genau das, was wir bräuchten: „einen Kulturjournalismus, der Phänomene erklärt, interpretiert und einordnet“, sagt Bascha Mika, die den Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner UdK leitet (s. Interview S. 50). Die Kulturteile drohten zu „Marketingplattformen“ zu verkommen, monieren dagegen die Kritiker. Der Leiter der Hauptabteilung Kultur bei Deutschlandradio Kultur Wolfgang Hagen ist überzeugt: „Nur so erreicht man die jüngeren Leute.“ „Die jüngeren Tageszeitungsleser“, so Imboden, seien „ausgesprochen kulturorientiert“.

Vor allem Zeitungen haben seiner Meinung nach noch nicht begriffen, dass sie auch rein wirtschaftlich mit dem Kulturteil rechnen sollten. Politik, Wirtschaft, das gebe es auch online, aber: „Der Kulturteil hat das Potenzial, die verkaufte Auflage einer Zeitung um vier Prozent zu steigern“, der Schatz müsse vor allem von den Regionalblättern nur gehoben werden (wie, erklärt er auf S. 49). Er plant für 2011 sogar eine eigene Großveranstaltung zum Thema – diesen Drang hatte er bislang bei keinem anderen Ressort, das bei seinen Analysen abschmiert.

Mehr Popkultur

Dass sich der Kulturbegriff erweitert hat, lässt sich vor allem bei den überregionalen Formaten erkennen: Der popkulturelle, alltagstaugliche Dreh hat Einzug in die Zeitungsredaktionen gehalten und neue Bücher hervorgebracht – allerdings vom Kulturteil separiert. Am Vorbild „G2“ beim „Guardian“ orientierte sich nicht nur „tazzwei“ – jetzt „Gesellschaft Kultur Medien“ – bei der taz, auch „Alltag“ beim „Freitag“, „Gesellschaft“ bei der FAS und der WamS sind davon inspiriert. Dass die „Zeit“ das „Zeit Magazin“ wiederbelebt hat und die FAZ „Bilder und Zeiten“, spiegelt diese Tendenz ebenso. Beim Fernsehen ist die Popkultursendung „Tracks“ auf Arte bereits seit 15 Jahren erfolgreich, Formate wie „Durch die Nacht mit“ haben ihre festen Fans, neue Kultursendungen wie „Yourope“ oder 3sats „Bauerfeind“ haben erklärtermaßen eine jüngere Zielgruppe. Und dann wandelt das ZDF zum 1. April auch noch den ZDF-Theaterkanal in den Spartensender ZDF-Kultur um – Popkultur, Computerspiele, moderne Operninszenierungen, all das soll hier gebündelt werden; schließlich gebe es dafür bislang „keine audiovisuelle Heimat“, so ZDF-Intendant Markus Schächter.

„Wir sind ganz beschwingt“, erklärt Tita von Hardenberg, die mit ihrer Produktionsfirma „Kobalt“ für ARD, ZDF und Arte Sendungsformate entwickelt hat, „Polylux“, „Tracks“, „Yourope“, „Theater Foyer“ gehören unter anderem dazu, sie schickte Dieter Moor für „Bauer sucht Kultur“ aufs Land. An drei neuen Konzepten werde gerade gearbeitet, eines davon ist für einen Privatsender. „Ich finde, wir erleben gerade einen Umbruch im Kulturjournalismus“, sagt von Hardenberg.

„Zum großen Lamento“, stellte auch Journalismusforscher Gunter Reus im vergangenen Jahr fest, „besteht kein Anlass“. In einer Langzeitstudie von 1983 bis 2003 untersuchte Reus die Kulturteile von FAZ, SZ, HAZ und der „Neuen Presse Hannover“ – und fand bei den vier Titeln heraus, dass in den 20 Jahren sowohl Menge als auch Länge der Feuilletontexte deutlich zugenommen haben. In der Schweiz ist die Situation übrigens anders: Die Diskussion über die schwindenden Feuilletonteile, die schrumpfenden Kulturredaktionen bestimmt dort seit 2009 die Branche.

Beim öffentlich-rechtlichen Radio scheint es ähnlich: „Über die Vielfältigkeit des Kulturbegriffs gibt es unter den Rundfunkanstalten keinen Diskurs“, sagt Wolfgang Hagen von Deutschlandradio Kultur. „Das liegt am mangelnden Interesse der Programmdirektoren. Die ARD-Kulturprogramme werden von Traditionen, nicht von Konzeptionen geregelt.“ Stattdessen würden die Kulturprogramme geplündert, „den NDR-Hörfunk hat man in den letzten Jahren in die Steinzeit des Kulturbegriffs zurückreformiert“.

Sein Alptraum sei, dass die ARD ihre Hörfunkangebote auf vier Kulturprogramme zusammenstreiche, je eines für Nord-, Süd-, Ost- und Westdeutschland. Hörerinitiativen wie „Das Ganze Werk“ kämpfen seit Jahren gegen den Programmwandel von NDR Kultur und rbb Kulturradio, wünschen sich etwa, dass konsequenter „ganze Werke“ gesendet werden – und gaben 2009 entnervt auf. Jedoch: „Die Annahme, Kulturradio sei nur Einschaltradio, ist eine Mär“, sagt Hagen. Er setzt auf ein kulturelles Infoprogramm, das auf Redundanzen aufgebaut ist, wie das „Radiofeuilleton“ bei Deutschlandradio Kultur; das sei derzeit „das innovativste Format“, bescheinigt er dem Eigenprodukt.

Das Ende der Kritikerfürsten

Mit dem Aufkommen des politisch verwurzelten Debattenfeuilletons fürchteten viele ums klassische Rezensionsfeuilleton. Das vielbeschworene „Ende der Kritik“ sehe er nicht, beteuert Gunter Reus, laut seiner Langzeitstudie gibt es mehr Rezensionen als 1983. „Das Publiku
m ist mündiger geworden“, stellt Reus fest, „es erwartet vom Kritiker tendenziell mehr Informationen als Bewertung“.

„So wie sich Theaterformen ändern, muss sich auch die Gattung der Kulturkritik verändern“, sekundiert Esther Slevogt, Gründungsmitglied vom Online-Magazin nachtkritik.de, wo seit 2007 Theaterinszenierungen aus der gesamten Republik rezensiert werden. Die Zeiten, in denen die „Kritikerfürsten“ ihre finale Meinung verkündeten, seien vorbei: „Wir betrachten Kritik nicht als Urteil von oben, wir wollen nicht das letzte Wort haben, sondern das erste, Diskussionen initiieren.“ Und das scheint zu klappen, von einem Leserwachstum von rund 30 Prozent im Monat können Zeitungen nur träumen. Noch schreibe man aber noch keine schwarze Null, die Redakteure arbeiten parallel auch anderswo. Sobald die Finanzierung steht, sollen bei „Nachtkritik“ die User stärker eingebunden werden.

Die Einschätzung, dass sich die Machart der Kulturformate, die Haltung der Journalisten ändern müsse, teilt Tita von Hardenberg: „Man darf nicht im Elfenbeinturm der studierten Bildungsbürger stecken bleiben“, sagt sie und empfiehlt: weg von einem starr linearen Konzept, in dem der Moderator (oder Autor) nur „Museumsführer“ ist und alles erklärt wird, hin zu einer subjektiven, selbstironischen Erzählhaltung. Mal sehen, was Wolfgang Herles aus der Literatursendung des ZDF macht: Das Sorgenkind des ZDF, das seit dem Ende des „Literarischen Quartetts“ dauernd reanimiert werden musste, wird nach dem Aus von Elke Heidenreich und dem „Vorleser“-Duo Ijoma Mangold und Amelie Fried ab Spätsommer von „aspekte“-Mann Herles übernommen. Dass Büchersendungen im TV funktionieren können, beweist nicht zuletzt Denis Scheck mit seinen kratzbürstigen Rezensionen bei „druckfrisch“ von der ARD.

Auch konventionellere etablierte Kultursendungen wie die tägliche „Kulturzeit“ auf 3sat, „titel, thesen, temperamente“ bei der ARD oder der ZDF-Klassiker „aspekte“ haben sich einen neuen Klang zugelegt, wie etwa mit dem knorrigen Dieter Moor als süffisantem ttt-Moderator. 3sat-Übermann Gert Scobel bekam 2010 unter anderem eine mehrteilige Philosophie-Sendung gewährt. Am innovativsten erwies sich zuletzt ausgerechnet „aspekte“, indem man im Herbst den österreichischen Künstler Erwin Wurm die Sendung gestalten ließ – der Lucia Braun und Wolfgang Herles in eine „30-Minuten-Skulptur“ verwandelte. So aufregend ist journalistische Kunstvermittlung selten.

Den Aktionskünstler Iepe Rubingh gibt es übrigens wirklich. Er hat im Mauerpark nach Öl gebohrt. Und ließ im April 2010 auf dem Rosenthaler Platz in Berlin Mitte eimerweise Farbe ausschütten, die dann von den Autos über die Kreuzung verteilt zum knallbunten Muster wurde. Tita von Hardenbergs Produktionsfirma Kobalt sitzt fünf Häuser weiter. Die zufällige Straßenkreuzungskunst wäre doch ein super Kulturthema, findet sie.

Link:Tipps

TV: „aspekte“ (November 2010) als „30-Minuten-Skulptur“ vom österreichischen Künstler Erwin Wurm.

http://bit.ly/fTLLg5

Radio: „Ein Abend für …“, neues 2-Stunden-Format der Kulturredaktion bei Radio Bremen.

http://bit.ly/fqbKRi

Print: Die eklektische Infografikseite „Heiter bis glücklich“ mit Kultur- und Designtipps im „Zeit Magazin“ (jetzt auch als Blog).

http://blog.zeit.de/zeitmagazin

Online: Das preisgekrönte Multimedia-Projekt des HR zur großen Botticelli-Ausstellung in Frankfurt.

http://bit.ly/4gXsLL

Lese:Tipps

Gunter Reus: „Berichter oder Richter?“, Journalistik Journal (April 2010).

http://bit.ly/dcgl6F

Dokumentation des Feuilletonkongresses „Fallende Blätter“ in Halle 2003:

www.perlentaucher.de/artikel/1120.html

Initiative, die seit 2006 gegen die Programmreform bei NDR Kultur und rbb Kulturradio kämpfte und im vergangenen Jahr aufgab.

www.dasganzewerk.de

Buch:Tipp

Siegfried Kracauer: „Das Ornament der Masse. Essays“, Suhrkamp 1977, 12,50 Euro.

Kracauer war Feuilletonredakteur der „Frankfurter Zeitung“. Seine Texte sind Paradebeispiele für einen soziokulturellen Blick des Feuilletons.

Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Special“ auf Seite 46 bis 48 Autor/en: Anne Haeming. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.