Journalisten müssen twittern

Schon sehr früh zwang ich alle leitenden Redakteure, sich mit Facebook anzufreunden, damit sie verstehen, wie diese neuen Arten der Kreativität und der Verbindung funktionieren. Ebay kann uns lehren, wie wir mit Angelegenheiten des Prestiges und der Identität umgehen und mit unseren Lesern zurechtkommen sollen. Amazon und Trip Advisor können die Macht der Beurteilung durch Ebenbürtige offenbaren. Aber wir sollten auch verstehen, was es mit Tumblr oder Flipboard oder Twitter auf sich hat.

Ich weiß nicht, wie oft Menschen – einschließlich einer erstaunlichen Anzahl von Kollegen in Medienunternehmen – die Augen verdrehen, wenn man Twitter erwähnt. „Keine Zeit dafür“, sagen sie. „Albernes Geschwätz über das, was Twits zum Frühstück schlucken. Hat nichts mit dem Nachrichtengeschäft zu tun.“

Nun: ja und nein. Leeres Geschwätz: ja sicher, Unmengen davon. Aber zu behaupten, dass Twitter nichts mit dem Nachrichtengeschäft zu tun hat, ist eine denkbar falsche Vorstellung. Ich habe 15 Punkte gesammelt, wo Twitter ziemlich effizient ist und welche von größtem Interesse für jeden sein sollten, der mit Medien zu tun hat, egal auf welcher Ebene.

1. Twitter ist eine erstaunliche Form des Vertriebs. Twitter ist eine höchst effiziente Art, Ideen, Informationen und Inhalte zu verbreiten. Lassen Sie sich nicht von der Beschränkung auf 140 Zeichen beirren. Viele der besten Tweets sind Links. Die Reichweite von Twitter kann immens sein. Warum ist das von Bedeutung? Weil wir uns auch um den Vertrieb kümmern. Wir stehen nun im Wettbewerb mit einem Medium, das viele Dinge unvergleichlich schneller bewältigen kann als wir. Das führt uns zurück zum Kampf zwischen Kopisten und den Erschaffern von Neuem. Die Lebenserwartung eines großen Teils der exklusiven Information kann heute in Minuten, wenn nicht in Sekunden, berechnet werden. Das hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser Geschäftsmodell, vom Journalismus gar nicht zu reden.

2.Bei Twitter passieren die Dinge zuerst. Nachrichtenorganisationen und Redaktionen bringen noch immer eine große Menge an Breaking News. Doch in zunehmendem Maße passieren News zuerst auf Twitter. Wenn Sie ein regelmäßiger Twitter-Nutzer sind – obwohl Sie im Nachrichtengeschäft tätig sind und Zugang zu den Nachrichtenagenturen haben –, haben Sie die Chance, viele Gerüchte zuerst zu erfahren, die später Breaking News werden: Es gibt da draußen Millionen von Menschen, die die kleinsten Details aufschnappen und die den gleichen Instinkt haben wie die Agenturen – die News als Erste zu bringen. Je mehr Menschen daran teilnehmen, umso besser wird das einmal funktionieren.

3. Twitter ist als Suchmaschine ein Rivale für Google. Viele Menschen haben noch immer nicht ganz begriffen, dass Twitter in mancher Hinsicht besser ist als Google, wenn es um das Herausfinden von Nachrichtenstoff geht. Google muss sich darauf beschränken, Algorithmen zu verwenden, um in den unwahrscheinlichsten, versteckten Winkeln des Web Informationen auszuspähen. Twitter geht einen Schritt weiter, indem es die Fähigkeiten der menschlichen Intelligenz von Millionen nutzbar macht, mit dem Ziel, neue, wertvolle, relevante oder unterhaltsame Informationen zu finden.

4. Twitter ist ein ausgezeichnetes Tool für die Informationssammlung. Sie nutzen Twitter, um Informationen über irgendein für Sie interessantes Thema zu sammeln, und Sie gelangen oft zur besten Information, die es dazu gibt. Es wird zu Ihrer personalisierten Nachrichteneinspeisung. Wenn Sie die interessantesten Menschen auf Twitter verfolgen, werden Ihnen diese mit allergrößter Wahrscheinlichkeit die interessantesten Informationen zukommen lassen. In anderen Worten: Nicht nur Sie sind auf der Suche. Sie können sich zurücklehnen und andere Menschen, die Sie bewundern oder respektieren, für Sie suchen und sammeln lassen. Noch einmal: Es gibt keine andere Organisationsform, um Informationen zu sammeln und zu verteilen, die an die kombinierte Macht all dieser Arbeitsbienen heranreichen würde.

5.Twitter ist ein großartiges Tool für Reporter. Viele der besten Reporter nutzen jetzt routinemäßig Twitter als Hilfsmittel, um Informationen zu ergattern. Dabei kann es um einfache Anfragen gehen, um etwas in Erfahrung zu bringen, was andere Menschen bereits wissen oder leicht ausfindig machen können. Die sogenannte Weisheit der Massen kommt dabei ins Spiel: die „Sie wissen mehr als wir“-Theorie. Oder Sie haben es einfach eilig und wissen, dass jemand da draußen die Antwort schnell parat hat. Oder es kann sich um Reporter handeln, die Twitter nutzen, um Zeugen für bestimmte Ereignisse zu finden – Menschen, die zur rechten Zeit am rechten Ort waren, die sonst aber schwer zu finden wären.

6. Twitter ist eine fantastische Art des Marketings. Sie haben Ihr Stück oder Ihren Blog geschrieben. Vielleicht haben Sie andere in Ihre Recherche eingebunden. Jetzt können Sie ihnen allen mitteilen, dass es fertig ist, sodass sie auf Ihre Site kommen können. Sie machen Ihre Anhängerschaft darauf aufmerksam. Wenn denen gefällt, was sie lesen, werden sie anderen davon erzählen. Ich habe nur 18.500 Fans. Wenn ich jedoch Re-Tweets von einem unserer Kolumnisten, Charlie Brooker, erhalte, komme ich auf fast 200.000. Wenn der „Guardian“ es aufgreift, erreicht es ein Publikum von 1,6 Millionen. Wenn Stephen Fry es wahrnimmt, wird es global.

7. Twitter ermöglicht eine Serie von Konversationen. Die Menschen lesen, was Sie geschrieben haben, und verbreiten es weiter, und sie können antworten: Sie können zustimmen oder anderer Meinung sein, oder sie können es verurteilen. Sie können anderswo bloggen und sich verlinken. Es gibt nichts Schlimmeres, als etwas zu schreiben oder auszustrahlen, ohne eine Reaktion zu erhalten. Mit Twitter erhalten Sie sofort eine Antwort. Das ist keine bloße Übertragung mehr, das ist echte Kommunikation. Es ist die Fähigkeit, etwas in Realzeit zu teilen und zu diskutieren, und zwar mit Hunderten oder Tausenden Menschen. Twitter kann so das Gegenteil von Fragmentierung sein: Es ist ein paralleles Universum gemeinsamer Konversationen.

8. Twitter ist abwechslungsreicher. Traditionelle Medien ließen nur einige wenige Stimmen zu. Twitter lässt jeden mitmachen.

9. Twitter verändert den Ton des Schreibens. Zu einer guten Konversation gehören sowohl das Zuhören als auch das Reden. Sie wollen sich einbringen und unterhaltsam sein. Auf Twitter muss man sich dabei kürzer fassen. Das führt neben mehr Humor zu mehr Mischung von Kommentar und Fakten: Es ist persönlicher. Die erhöhte Plattform, auf der Journalisten manchmal zu sitzen glauben, wird beim Twittern weggefegt. Journalisten lernen schnell. Sie fangen an, anders zu schreiben.

10. Twitter ist ein nivelliertes Spielfeld. Ein anerkannter Name kann anfangs eine beträchtliche Anzahl von Fans anziehen. Wenn derjenige aber nichts Interessantes zu sagen hat, dann redet er vor einem leeren Raum. Beim Twittern sammelt sich die Energie um Menschen, die Dinge spritzig und unterhaltsam sagen können, selbst wenn sie unbekannt sind. Sie sprechen vielleicht zu einem kleinen Publikum, doch wenn sie etwas Interessantes sagen, kann das unzählige Male wiederveröffentlicht werden, und der Exponentialschritt dieser Vielfach-Übertragungen kann dann das Publikum der sogenannten großen Namen in den Schatten stellen. Schockierende Nachricht: Manchmal können Menschen, die man früher als Leser kannte, griffigere Schlagzeilen und Beiträge schreiben als Journalisten.

11. Twitter hat einen anderen Nachrichtenwert. Menschen, die twittern, haben oft eine völlig andere Wahrnehmung dessen, was eine Nachricht ist. Was einem Journalisten hinsichtlich der Auswahl offenkundig erscheint, ist oft ganz anders, als es andere Menschen sehen. Die Macht von Zehntausenden, die diese andere Auswahl artikulieren, kann in die Newsrooms zurückschwappen und die Nachrichtenauswahl der Redakteure beeinflussen. Natürlich können wir das auch ig
norieren. Aber sollten wir?

12. Twitter hat eine lange Aufmerksamkeitsspanne. Normalerweise wird mit dem Gegenteil argumentiert – dass Twitter nur ein augenblicklicher, hoch kondensierter Bewusstseinsstrom sei. Das perfekte Medium für einen Goldfisch. Doch nutzen Sie Ihr Tweetdeck und folgen Sie einem bestimmten Schlüsselwort, Ereignis oder Thema, und Sie werden darauf kommen, dass die Aufmerksamkeitsspanne von Twitter-Nutzern Zeitungen erblassen lässt. Sie werden Informationen über Themen ausspähen und sammeln, die Sie betreffen, und zwar noch lange Zeit nachdem die Karawane der professionellen Journalisten schon weitergezogen ist.

13. Twitter schafft Communitys. Communitys bilden sich am ehesten rund um besondere Anlässe, Menschen, Vorkommnisse, Fetische, Kulturen, Ideen, Themen oder geografische Räume. Es kann sich um vorübergehende Gemeinschaften handeln oder um Langzeit-Gemeinschaften, um starke oder um schwache. Doch sind sie als Communitys erkennbar.

14.Twitter verändert die Auffassung von Autorität. Anstatt die Expertenmeinungen anderer – meist von uns Journalisten – abzuwarten, verschiebt Twitter die Balance zu der sogenannten „Peer-to-Peer“-Autorität. Es ist nicht so, dass die Twitterer ignorieren, was wir sagen – im Gegenteil, sie werden unsere effizientesten Übermittler und Beantworter (siehe oben, Vertrieb und Marketing). Doch wir machen uns selbst etwas vor, wenn wir nicht glauben, dass da noch eine andere Kraft im Spiel ist – dass sich beispielsweise eine 21-jährige Studentin zu den Ansichten und Vorlieben von Menschen, die so aussehen und so reden wie sie, eher hingezogen fühlt. Oder eine 31-jährige Mutter von Kleinkindern. Oder ein 41-jähriger leidenschaftlicher Kerl zu Politik und der Rockmusik seiner Jugend.

15. Twitter ist ein Agent des Wandels. Je mehr die Fähigkeit der Menschen zunimmt, sich um Themen zu sammeln und sich darüber auch zu artikulieren, umso stärker sind auch die Auswirkungen auf Menschen in herausgehobenen Positionen. Unternehmen lernen bereits, die Macht der kollaborativen Medien zu respektieren, ja zu fürchten. Die sozialen Medien werden in zunehmendem Maße zu einer Herausforderung für die konventionelle Politik und auch die Gesetze hinsichtlich der Ausdrucks- und Redefreiheit.

Erschienen in Ausgabe 03/2011 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 52 bis 53 Autor/en: Alan Rusbridger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.