Die Leithammel blöken und die Schafe folgen brav. Dieses Bild zeichnen Medienkritiker gerne, wenn sie die politische Berichterstattung im Land unter die Lupe nehmen. Von Wichtigtuern ist die Rede, von Boulevardisierung und Personalisierung, Beschleunigung und Oberflächlichkeit, Konkurrenzdruck und Selbstbezogenheit. Und natürlich von den Leitmedien, die entscheiden, welche Säue heute durchs Dorf getrieben werden und wie das Drehbuch dieser Jagd aussieht.
Und das verkauft sich dann nicht einmal: Der „Spiegel“ mit einer Geschichte über Rückenschmerzen auf der Titelseite verkaufte sich besser als fast alles andere, auch bei der „Zeit“ erlebte man das Desinteresse: „Aktuelle politische Themen sind in aller Regel keine Verkaufserfolge am Kiosk“, sagt Silvie Rundel, Sprecherin der „Zeit“: „Merkwürdigerweise nicht einmal dann, wenn es sich um weltbewegende Ereignisse wie die Bankenkrise, den Krieg in Libyen oder die Reaktorkatastrophe von Fukushima handelt. Besonders auffällig war dieses Phänomen im Jahr 2011, das so reich an dramatischen Ereignissen war.“
Weg von der Berliner Hysterie
Wer Journalisten zur Politikberichterstattung befragt, findet tatsächlich viele Kritikpunkte bestätigt. Doch es gibt auch einen gegenläufigen Trend, der sich zumeist weitab vom Berliner Medienrummel abspielt. Dort in der Provinz gehen die Schäflein eigene Wege. Selbstbewusst brechen die Redaktionen vieler Regionalzeitungen aus dem nationalen Themen-Setting aus, setzen die Brille der Leser auf, verstehen sich als Übersetzer, Erklärer und Anwälte ihrer Region und Leserschaft.
In den regionalen Medienhäusern – zumindest in den guten – hat offenbar ein radikaler Wandel stattgefunden. Die Abkehr von der Berliner Hysterie und die Hinwendung zum Leser. Beispiele gibt es landauf, landab. Der „Südkurier“ in Konstanz hat die Politikberichterstattung erweitert und intensiviert. Der „Münchner Merkur“ hat eine eigene fünfköpfige Rechercheredaktion gegründet, die Hintergrundgeschichten liefert. Horst Seidenfaden, Chef der „Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen“, gibt der Politik nicht nur mehr Platz, sondern auch einen neuen Zuschnitt: Man setze auf „kurze Nachrichten und großen Hintergrund mit Erklärstücken“, so Seidenfaden, um den Lesern zu zeigen, „was das alles für jeden persönlich“ bedeute. Die Zeitungsgruppe Lahn-Dill pflegt Schwerpunktseiten, Blickpunktseiten, Tagesthemen: „Die Politikberichterstattung hat deutlich mehr Allround-Blick gewonnen“, sagt Chefredakteur Uwe Röndigs: „Wir liefern viel stärker Synthese und Analyse.“ Sein Kollege Joachim Braun, Chefredakteur beim „Nordbayerischen Kurier“, hat für sein Blatt in Bayreuth das Ziel, mehr politische Auseinandersetzung zu suchen, notfalls die Leser auch zu provozieren. Sein Motto: „Gegen den Strom schwimmen und Kante zeigen.“
Nicht immer erfolgte dieser Wandel aus freien Stücken. Angesichts sinkender Leserzahlen und einer Flut digitaler Konkurrenzangebote müssen die Regionalzeitungen ihr Profil schärfen. Wer austauschbar ist, wird ausgetauscht. „Die Regionalzeitungen sind gezwungen, sich etwas einfallen zu lassen und auch im Mantel auf die Leser zuzugehen“, fasst Dieter Löffler, Politikchef beim „Südkurier“, die Hauslinie zusammen.
Es ist eine Rückbesinnung auf die eigenen Stärken: Peter Pauls, Chefredakteur des „Kölner Stadt-Anzeiger“ betont, dass trotz der Sparrunden in den Verlagen die journalistische Qualität nicht abgenommen habe. Allein die Zusammenführung der Parlamentsredaktionen von „Berliner Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Mitteldeutscher Zeitung“ und „Kölner Stadt-Anzeiger“ beschere jedem Titel Zugriff auf ein Berliner Büro in der Dimension der nationalen Blätter. „Von Verflachung kann also keine Rede sein“, betont Pauls. Im Gegenteil: „Wir sind kaum in der Lage, das tägliche Angebot an eigenrecherchierten Texten in Köln abzudrucken – geschweige denn die aus den anderen Redaktionen kommenden Artikel unterzubringen.“
Bei all dem wird eine alte Journalistenfrage neu gestellt: Schreiben wir noch die richtigen Geschichten? Oder geht unsere Arbeit an den Menschen vorbei? Müssen wir neu definieren, was die Leser, die User haben wollen und brauchen? Die Relevanz von Themen wird in vielen Redaktionen diskutiert. Und die Antwort sieht in Kassel, Konstanz, Köln oder Stuttgart oft erheblich anders aus als in der berühmten „nervösen Zone“ der Berliner Republik. „Wir dürfen die Themen nicht von ihrer Relevanz lösen, wir schreiben nicht für uns, sondern für die Kundschaft“, sagt Christoph Reisinger, Chefredakteur der „Stuttgarter Nachrichten“. Dies dürfe aber nicht zu Kirchturmdenken führen. Seiner Meinung nach ist die Regionalisierungswelle die Wurzel der Krise der regionalen Tageszeitungen: „Dass wir Irrelevantes zum Relevanten erklärt haben, nur weil es vor der Haustür liegt.“
Auch Joachim Braun sieht die Relevanzfrage selbstkritisch: „Ich glaube, dass wir die völlig falschen Themen machen, viele Themen, die an den Eliten orientiert sind oder an den eigenen Interessen der Journalisten.“ Eine Zeitung müsse Haltung zeigen, Klartext reden und Betroffenheit auslösen: „Wir versuchen jeden Tag, große Themen herunterzutransportieren.“ Das sei mühsam, aber dringend notwendig.
Es sind oft weniger die Themen als vielmehr die Aufbereitung, die sich vielerorts gewandelt hat. Die Herangehensweise an politische Geschichten habe sich entschieden verändert, so Pauls: „Wir versuchen heute viel mehr als früher, zu erklären.“ Georg Anastasiadis, stellvertretender Chefredakteur beim „Münchner Merkur“, kann das aus Münchener Sicht nur bestätigen: „Wir müssen Hintergründe ausleuchten, die Ereignisse und Beschlüsse einordnen, den Menschen die Welt erklären.“ Deshalb bereichere man die bekannte Nachricht durch eigene Analysen, Interviews, Features. Anastasiadis: „Das ist eine grundsätzlich neue Herangehensweise, die erst durch den Druck des Internets ausgelöst wurde.“
Emotionalisierung als Trick
Mehr Hintergrund, bessere Analyse, lesernahe Aufbereitung – also alles gut? Keineswegs, meint Norbert Bolz. Der Medienwissenschaftler an der Technischen Universität Berlin verfolgt seit Jahren die Szene. Er sieht die Politikberichterstattung insgesamt im Niedergang begriffen. Auf Unterhaltung fixiert, unreflektiert, inkompetent, moralisierend, das sind nur einige seiner Kritikpunkte: „Auch für politische Themen geht man weg von der sachbezogenen und hin zu einer emotionalisierten und personifizierten Berichterstattung.“ Offenbar seien Journalisten durch die wachsende Komplexität der politischen Fragen überfordert. Bolz hat festgestellt: „Je komplexer, kleinteiliger, unübersichtlicher das Thema ist, desto unwahrscheinlicher, dass man es auf der sachlichen Ebene anpackt.“
Das sieht Eva Kohlrusch, erste Frau in der „Bild“-Chefredaktion, heute „Bunte“-Autorin und bis September 2011 Vorsitzende des Journalistinnenbunds, ähnlich: „Festzustellen ist, dass das Interesse an Personen und deren Privatleben wächst. Politiker sind nicht mehr ausgenommen, die Rolle von ‚Stars‘ einzunehmen“, sagte sie in einem Vortrag über Politikberichterstattung im Boulevard. „Wenn es mal eine Zeit gegeben hat, in der wir glaubten, die Wirkung eines Politikers hänge von seiner Krawatte ab, so ist es heute seine Fähigkeit, zu menscheln, sich ins Privatleben gucken zu lassen.“
Auf welchem schmal Grat Medien dabei wandeln, war Ende November auch in der „Zeit“ zu beobachten: Das Interview von C
hefredakteur Giovanni di Lorenzo mit Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der sanft vom Titel blickte, verursachte bekanntlich eine Proteststurm in der eigenen Leserschaft . Nachgefragt, ob die „Zeit“ bewusst stärker auf Personalisierung von Geschichten setze, um politische Zusammenhänge darzustellen, heißt es dort: Auch wenn die politischen Aufmacher eben eher schlechter am Kiosk liefen, wolle und werde man „nicht auf solche Titelgeschichten verzichten“. Das sei „Die Zeit“ „ihrer Identität als Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft, Wissen und Kultur schuldig. Eine Personalisierung ist dazu nicht nötig.“
Was aber dann? Norbert Bolz fordert mehr Bemühen um Differenziertheit. Zeitungen und Journalisten, die sich ernsthaft darum bemühen, seien aber eher die Ausnahme. Insgesamt sieht er einen oberflächlichen Einheitsbrei: „Die Zeitungen sind sich so ähnlich wie die Parteien, über die sie berichten. Alle singen das gleiche Lied.“ Der Trend zu zeitungsübergreifenden Redaktionsgemeinschaften mag dabei eine Rolle spielen. Vor allem aber, so kritisieren Berliner Politikbeobachter, habe die Bereitschaft und Möglichkeit, Themen auf den Grund zu gehen, nachgelassen. Immer lauter wird allenthalben die Klage, es fehle oft Zeit, manchmal Kompetenz, manchmal der Wille. „Wir jagen eine Sau nach der anderen durchs Dorf und wissen am Ende nicht mehr, wieviele waren es eigentlich im letzten Monat?“, mahnte Sabine Adler, ehemals Hauptstadt-Bürochefin des Deutschlandfunks und seit Herbst Sprecherin des Bundestagspräsidenten, zu Jahresbeginn 2011 mehr journalistische Gelassenheit und Sorgfalt in der Politikberichterstattung an. Doch immer noch schaffen es zu viele Meldungen ohne Neuigkeitswert und ohne Einordnung in die Schlagzeilen.
Mag sein, dass dies auch Ausdruck von „ausgeprägtem Herdenverhalten“ ist, das Christoph Reisinger gerade bei den politischen Berichterstattern sieht: „Es wird geschaut, was machen die Taktgeber, zum Beispiel ‚Bild‘ oder ‚Spiegel Online‘. Dann dackelt oft die Herde brav den Leitmedien hinterher.“ Lübke sieht eher die enorme Medienkonkurrenz als große Herausforderung, die aber auch negative Begleiterscheinungen mit sich bringt: „Alle wollen immer der Erste mit einer Meldung sein. Da haben Ideen, Gedanken, Visionen oft gar keine Chance, sich zu entwickeln.“
Kollegen, die aus Berlin berichten, beklagen durchaus die Atemlosigkeit, mit der Themen durchgehechelt werden. Holger Schmale, Chefkorrespondent in der DuMont-Redaktionsgemeinschaft, sagt: „Der Kampf um die Quote, das Wettrennen, exklusive Nachrichten zu produzieren, spielt eine große Rolle. Aber es liegt nicht nur an uns Journalisten, es ist auch verdammt viel los.“ Die Pauschalkritik an der Politikberichterstattung will er nicht stehen lassen: „In der Diskussion um die Verflachung spielen besonders die Fernseh-Talkshows und die Onlinemedien eine Rolle. Bei den größeren Zeitungen ist die Qualität eher besser geworden.“
Weniger Häppchenjournalismus
Das sieht Dieter Wonka ähnlich. Er ist politischer Korrespondent im Hauptstadtbüro der Mediengruppe Madsack. Von dort werden Regionalzeitungen in Nord- und Ostdeutschland beliefert, etwa die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“, „Leipziger Volkszeitung“, „Lübecker Nachrichten“, „Kieler Nachrichten“, „Ostsee-Zeitung“. Natürlich habe das Tempo zugenommen, so Wonka. „Früher hatten wir ein großes Thema pro Tag, heute sind es fünf.“ Vor allem sei die Berechenbarkeit nicht mehr da. Was heute wichtig wird, sei oft schwer vorherzusagen: „Da kann es passieren, dass überraschend etwas hochploppt, und wir haben ein politisches Megathema, bei dem ich nach 14 Tagen sage, eine Spur weniger Alarmismus wäre manchmal auch ganz gut.“
Hinzukomme bei vielen Kollegen die Sorge, ein wichtiges Thema zu verpassen. Doch stehe Lesernähe und journalistische Qualität mehr denn je im Fokus: „Noch nie waren Journalisten so guten Willens, viele Informationen mit großem Nutzwert zu bieten.“
Gerade in dem Pool-Prozess mit Redaktionsgemeinschaften, der in vielen Häusern betrieben wird, sieht Wonka eine Chance für mehr Qualität: „Das wird die gesamte Hauptstadtberichterstattung verändern.“ Da denken nicht mehr einzelne Korrespondenten, sondern große Büros über die Geschichten nach. Bei Madsack sind es im Moment zehn Kollegen in Berlin, Tendenz steigend. Ihr Ziel, so Wonka: weniger Häppchenjournalismus, mehr vertiefte, analytische Geschichten.
Lothar Mahrla, stellvertretender Chefredakteur bei der „Märkischen Allgemeinen“, hört das gerne. Sein Haus gehört seit Jahresbeginn zur Madsack-Gruppe. Mahrla sieht die eigene Branche durchaus kritisch. Der Anspruch, den Menschen Orientierung zu geben, werde von den Zeitungen oft nicht eingelöst. Gravierender sieht er jedoch die Probleme im Lokalen. Es gebe die Tendenz, dass alle wichtigen Entscheidungen nichtöffentlich beraten werden. Auf der anderen Seite fehle das Personal, um die Dinge zu hinterfragen. Anton Sahlender, Mitglied der Chefredaktion der Würzburger „Main-Post“, beklagt dieselbe Entwicklung. Politische Diskussionen hinter verschlossenen Türen, weniger Möglichkeiten der Teilhabe für die Bürger: „Die kommunalen politischen Gremien sind insgesamt undurchsichtiger geworden.“ Die Redaktionen, so Sahlender, schauten diesem Treiben allzu oft tatenlos zu: „Wir haben verlernt, an der richtigen Stelle zuzubeißen.“
Aber wo ist die richtige Stelle?
Das lässt sich inzwischen nur noch schwer ausmachen, so Mahrla: „Einerseits lässt das Interesse der Leute an Politik nach, andererseits gibt es so viele Bürgerbewegungen wie noch nie. Die Leute sind inzwischen tatsächlich gegen alles.“ Und sie nehmen den Medien die Meinungshoheit, diskutieren in sozialen Netzwerken, in Blogs und Online-Postings. Vielerorts gründeten Bürger im Internet eine Gegenöffentlichkeit zu den lokalen Medien. Entsprechend groß ist die Aufmerksamkeit in den Medienhäusern. In Bayreuth etwa wurde eine Kollegin eingestellt, die sich speziell um Social Media kümmern soll: „Sie wird sich in den Netzwerken bewegen und dafür sorgen, dass sich die Themen und Diskussionen in der Zeitung widerspiegeln“, so Joachim Braun.
Horst Seidenfaden trimmt die Redaktion in Kassel konsequent auf die Onlinemedien: „Soziale Netzwerke können schnell dazu beitragen, herauszufinden, was wichtig ist für unsere Kunden. Wir schmeißen dann auch unsere Zeitungsseiten noch mal um, wenn wir merken, dass andere Themen die Leute bewegen.“ Auch Dieter Löffler hat den „digitalen Stammtisch“ stets im Blick: „Das kann ein Seismograph sein.“ Beim „Merkur“ gibt es einen Ombudsmann, der die Leserbriefseite betreut und Ansprechpartner für die Leser ist.
Alle Befragten sind sich einig: Am Ende muss journalistische Kompetenz stehen. Holger Schmale empfiehlt den Redaktionen mehr Selbstbewusstsein: „Ich würde immer die Notwendigkeit von gut ausgebildeten Journalisten verteidigen, Journalisten, die einordnen, bewerten, die Fachwissen und den Überblick haben.“
Erschienen in Ausgabe 01+02/202012 in der Rubrik „Special. Politik“ auf Seite 32 bis 34 Autor/en: Robert Domes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.