New York. Winter ist für Protestbewegungen keine gute Jahreszeit. Seit der Räumung des Zucotti-Parks in New York ist es stiller geworden um Occupy Wall Street (OWS). Das Anliegen der Demonstranten jedoch, der Kampf gegen Ungleichheit, spiegelt sich in den Medien – vom Intellektuellenmagazin „New Yorker“, das in einer siebenseitigen Geschichte Schicksale von Mittelklasse-Amerikanern nachzeichnete, über Nachrichtensendungen bis zur Wirtschaftszeitschrift „Bloomberg Businessweek“. Der Begriff „income inequality“ wird nach einer Zählung der Nachrichtenwebsite „Politico“ in den Medien heute fünfmal so oft verwendet wie vor dem Beginn von OWS. Jetzt wird die Erosion der Mittelklasse sogar Wahlkampfthema von US-Präsident Barack Obama. Occupy Wall Street 2.0, sozusagen.
Es ist eine kulturelle Wende. Ungleichheit war, als ich vor fünf Jahren in die USA kam, einfach kein Thema. Meine amerikanischen Freunde verstanden die europäischen Debatten über ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung nicht. Der Glaube, jeder sei seines Glückes Schmied, ließ ihnen selbst krasse Unterschiede zwischen Reich und Arm akzeptabel erscheinen. Wenn du selbst Millionär werden kannst, dann neidest du dem, der es schon geschafft hat, sein Vermögen nicht.
Selbst die rechte Kampfpresse kommt um die Debatte nicht mehr rum – um zu erklären, dass sie unangebracht sei. „Ungleichheit als politisches Thema ist Mumpitz, erdacht in sozialistischen Fakultätsclubs und Hinterzimmern, in denen die Gewerkschaften die Fäden ihrer Marionettentheater ziehen“, wütet etwa Michael Goodwin, Kolumnist von Rupert Murdochs Boulevardblatt „New York Post“ und Kommentator des ultrarechten TV-Senders Fox.
Ganz anders Obama. Bei einer Rede in Kansas prangerte er an, dass die Einkommen des obersten einen Prozents der Verdiener in den vergangenen Jahren um 250 Prozent gestiegen seien. Damit mache er sich, so die „New York Times“, „die moralistische Haltung zu eigen, die im Zuge der Occupy-Proteste landesweit auf dem Vormarsch ist“. Den überschuldeten Häuslebauern hat die Regierung freilich nicht geholfen.
Nun hat das „Time Magazine“ die Person des Jahres gewählt: Es ist „der Demonstrant“.
Erschienen in Ausgabe 01+02/202012 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 12 bis 12. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.