Wenn Wähler Goethe zitieren

MOSKAU. Die von Manipulationsskandalen überschatteten Duma-Wahlen und die nachfolgenden Massenproteste in Russland haben den Kreml sichtlich nervös gemacht. Während des Wahlgangs wurden die Internetseiten mehrerer Oppositionsmedien durch Hacker-Angriffe ausgeschaltet.

Das Internet gilt als das Hauptvehikel der neuen Gegenöffentlichkeit. Schon vor den Wahlen musste der stellvertretende Chefredakteur Roman Badanin der Online-Zeitung „Gazeta“ seinen Hut nehmen, weil er eine geografische Karte der Wahlverstöße der Beobachtergruppe „Golos“ veröffentlicht hatte.

Aber auch auf die Printmedien wird wieder enormer Druck ausgeübt. Mitte Dezember wurden der Geschäftsführer des Presseverlages Kommersant Andrej Galijew sowie der langjährige Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Kommersant-Wlast“ entlassen. Grund: Der Besitzer des Verlages, der Wirtschaftsoligarch Alischer Usmanow, war über mehrere Fotos in der jüngsten Ausgabe des Journals aus Wahllokalen bei den Duma-Wahlen erbost. Vor allem über das Bild eines Wahlzettels: Jemand hatte die liberale Partei „Jabloko“ angekreuzt, dazu mit Filzstift quer über das Papier das berühmte Zitat aus Goethes „Götz von Berlichingen“ geschrieben: „Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“ – adressiert an Wladimir Putin. Usmanow bezeichnete die Veröffentlichung der Fotografie als „Pflegelei“.

Wie heftig andere Printmedien unter Druck geraten sind, kann jeder Moskauer täglich in der Zeitung lesen. Das intellektuelle und traditionell liberale Blatt „Nesawissimaja Gaseta“ veröffentlicht seit kurzem Artikel, in denen nur noch kremlnahe Experten zu Wort kommen, die heftig gegen alle Oppositionskundgebungen wettern. Das ebenfalls liberale Massenblatt „Moskowski Komsomolez“ versucht, kremlkritische Kommentare dadurch auszugleichen, dass es wilde Attacken auf die Kommunisten reitet. Die Zeitung „Kommersant“ schickte Putins Leibjournalisten, den Reporter Andrej Kolesnikow, zu der Massendemonstration am 10. Dezember. Er macht sich in seinem Artikel nach Kräften über das Publikum dort lustig.

Dahinter stecken zahlreiche Drohungen, führenden Printredakteuren zu kündigen. „Aus dem Kreml hat man uns signalisiert, Medwedew persönlich wolle unsere Zeitung schließen“, erzählt der stellvertretende Chefredakteur einer Hauptstadtzeitung. Er habe seinen Schreibtisch schon aufgeräumt, für alle Fälle. Und die Moskauer Medienwelt rätselt, wann der Kreml anfangen wird, auch im Internet aufzuräumen. www.gazeta.ru

Erschienen in Ausgabe 01+02/202012 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 12 bis 12. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.