Die hohe Kunst des Blätterns

September 2011, es sind die bleiernen Tage vor dem Tod von Steve Jobs, ein Café im kalifornischen Cupertino, wo einige der weltweit wohl einflussreichsten Entwickler ihren „Venti Latte“ nehmen. „Wir brauchen dringend eine eigene Software zum Gestalten von iPad-Magazinen“, schimpft ein hochrangiger Apple-Manager auf seine Firma. Die von anderen Unternehmen produzierten Programme seien durchweg „großer Mist“. „Kein Wunder“, ätzt der Insider weiter, „dass das auch für die meisten digitalen Magazine gilt. Wir vergeuden viel Zeit mit unbenutzbaren, hässlichen Apps. Und damit auch viel Reichweite und Umsatz.“

Gerade zwei Jahre ist es her, dass mit Apples iPad auch eine neue Mediengattung entstanden ist – seine jüngste Version, das iPad3 mit bestechender „Retina“-Auflösung, wird die Anbieter hochwertiger digitaler Inhalte zusätzlich anspornen. Bereits jetzt allerdings dürften die publizierten Experimente mit berührungsempfindlichen Blättermedien auch für zehn Jahre reichen. Und doch ist bisher wenig entstanden, was User wirklich glücklich macht und sie nachhaltig zum Kauf anregt. Das liegt, so finden nicht nur echauffierte Apple-Manager, unter anderem an einem Mangel wirklich brauchbarer Gestaltungs-Software.

Erste Ansätze, wie die dereinst aussehen mag, demonstrierte Apple kürzlich in einem speziellen Segment: Mit dem neuen „iBooks Author“ können selbst Laien interaktive Bücher gestalten, die sich anständig anfühlen – und sie direkt verkaufen, natürlich nur in Apples eigenem Buch-Store. Das Programm, das vor allem für Lehrbücher gedacht ist, produziert selbst auf Autopilot bereits erstaunliche Qualität. Nicht nur die großen Bildungsverlage, auch einige der journalistischen Medienhäuser studieren Apples neues Self-Publishing-System deshalb sehr genau.

Trendsetter

Wer in die Zukunft der Tablet-Medien sehen will, blickt besser nicht nur nach vorne, sondern auch nach links und rechts, zu den Lehr- und Kinderbüchern, den Comics und Spielen. Beispielsweise auf die zehn inspirierenden Medien-Apps, die wir hier vorstellen (s. unten).

Bis heute ist die mit Abstand raffinierteste App tatsächlich: ein Buch. Die Umsetzung von Al Gores Klima-Klassiker „Our Choice“, seit einem knappen Jahr auf dem Markt, ist noch immer die beste Antwort auf die Frage, wie neueste Medien aussehen sollen. Viele seiner Design-Ideen werden heute – auch von Apples „iBooks Author“ kopiert.

„Our Choice“ ist schlicht und deshalb ergreifend. Es besitzt keine Bedienungsanleitung – die branchenübliche Bankrotterklärung von Interaktions-Designern, die selbst nicht recht daran glauben, dass man ihre Produkte einfach so benutzen kann. „Our choice“ aber hat keinen einzigen Knopf. Keine schwer zu merkenden Steuer-Gesten. Keine versteckten, bei versehentlichem Auffinden aber nahezu unbenutzbaren Inhaltsverzeichnisse (s. Kasten Seite 57: Die zehn größten Design-Fehler.).

Großformatige Bilder machen die Kapitel auf und dienen zugleich zur intuitiven Navigation, Filme lassen sich anfassen und herumschieben, während sie gerade laufen. Die völlig neu programmierte sogenannte „Physik“ der Seiten, Bilder, Videos und Grafiken definiert bis heute den höchsten erreichbaren Standard.

Das opulente Werk hält sich außerdem an eine Konvention, die seit Gutenberg gilt: „Our Choice“ hat gewöhnliche Seiten. Sie hängen nicht nach dem Prinzip der Papyrus-Rolle über den Bildschirm hinaus und verstecken dort Inhalte. Wer das Buch durchblättert, hat ganz sicher alles gesehen. Das macht Leser zufrieden. Da gibt es keine Ober- und Unterebenen mit einem Wald von Richtungspfeilen, keine komplexen Teaser-Strukturen, die an überfüllte Nachrichten-Websites gemahnen. Kein psychedelischer Content, der sich je nach Lage des iPads völlig verändert. Und, ach: Die Seiten sind sofort da, es gibt keine rotierenden Pausenzeichen.

Die Entwickler des Standardwerks von der kleinen kalifornischen Firma PushPopPress wollten ursprünglich ein eigenes Programm zur Erstellung von Büchern wie „Our Choice“ herausbringen. Prompt wurden sie von Facebook übernommen und das Projekt verschwand vom Markt.

Anleihen finden sich dafür heute überall, etwa auch in einem Kinderbuch, von dem Tablet-Journalisten viel lernen können. Die Londoner Agentur „Somethin’ Else“ hat es umgesetzt: Richard Dawkins’ „The Magic of Reality“ besitzt ebenfalls eine lineare Seitenstruktur und blättert sich ganz wunderbar. Und doch geschehen darin die erstaunlichsten Dinge.

Weniger ist mehr

Zum Glück setzt sich raffinierte Schlichtheit immer mehr durch. Vorbei die Zeit, als man Wissenschaftsmagazine mit einer wirren Wabenstruktur navigieren musste („Eureka“, „The Times“), oder mit Hilfe von kaum zu erhaschenden Textbeinchen, die irgendwie aus einem dreidimensional rotierenden Fötus ragen („The Collection“, Ringier).

Immer seltener auch wählen Gestalter Web-artige Teaserkonzepte, wie bei der insgesamt etwas enttäuschenden App der „Süddeutschen Zeitung“. Mit einmal Tippen und einmal Wischen stehen die User da schnell im digitalen Seitenwald.

Beruhigend einfach kommt die direkte Konkurrenz daher, die Tageszeitungs-App der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Von Hipstern als besserer PDF-Reader verhöhnt, wird sie von ihren Lesern wegen ihrer Schlichtheit und Effektivität geliebt.

Die Abwesenheit von Web- und Papyrus-Content ist auch einer der Erfolgsgründe für die überzeugend weiterentwickelte Alt-Plattform „Zinio“. Sie vertreibt seit jeher schlichte Print-PDFs der Verlage. Nicht einmal als Raubkopie sind sie einfacher zu konsumieren. Ein fundamentaler Bonus, der seinerzeit auch Apples iTunes zum Erfolg verhalf.

Der „Spiegel“ hat als eines der wenigen großen Medien das Kunststück geschafft, den Zusammenhang des Drucklayouts mediengerecht aufzulösen, den Inhalt in der App dynamisch völlig neu zusammenzusetzen – und dabei trotzdem ein befriedigendes Lesegefühl zu erzeugen. Sieht man von etwas zu vielen Knöpfen und den gelegentlichen Hurenkindern ab, die etwa auch dem Roboter des „Economist“ regelmäßig unterlaufen, so ist der „Spiegel“ bis heute die gelungenste 1:1-Umsetzung eines Printmagazins. Und mit über 25.000 verkauften Ausgaben pro Woche auch eine der erfolgreichsten Magazin-Apps weltweit. Und, ach: Der „Spiegel“ ist zu blättern, die Seiten hängen nicht nach unten, sondern linear hintereinander – ein Kunststück, das so überzeugend nur wenigen Halbautomaten gelingt.

Die jüngst erschienenen Apps von „Wirtschaftswoche“, der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, von „stern“, „Zeit“ und „Frankfurter Rundschau“: Sie alle arbeiten mit mehrdimensionalen Seitensystemen, die immer wieder für Verwirrung sorgen. Schon wieder genial in seiner wirren Radikalität ist da der wunderhübsche, aber verschachtelte „Guardian“, dessen iPad-Titelseiten daherkommen wie ein Bilderteppich bei „Pinterest“. Mehr als 500.000 User hatten in der kostenlosen Probephase die vielleicht derzeit hipste App eines großen Medienhauses heruntergeladen. Die langfristige Konversionsrate nach dem Start des kostenpflichtigen Abos Mitte Januar bleibt abzuwarten.

Dass sich viele Printverlage für unbefriedigende Designstrukturen entscheiden, liegt auch in der Natur ihres Problems: Sie müssen Inhalte in das neue Medium zwängen, die nicht für Tablets gedacht waren. Die bei Print gebräuchlichen Tools bieten dafür die bequemste, aber auch dümmste Lösung: Was keinen Platz hat, muss ein Schattendasein jenseits des sofort sichtbaren Bereichs führen. Dass Tablet-Ausgaben dank solch gestalt
erischer Brutalität wenigstens auf Knopfdruck zu produzieren seien, wie es die Anbieter versprechen, hat sich als Märchen entpuppt. Die 1:1-Umsetzungen beschäftigen in den Verlagen beeindruckend große Teams.

Und doch muss es die 1:1-Medien geben, das ist eine weitere Lehre aus den ersten zwei Jahren iPad. Jedes Haus tut gut daran, eine möglichst getreue Umsetzung seiner Print-Flaggschiffe anzubieten, bevor es mit neuen, nur für Tablets ersonnenen Formaten experimentiert. Ersteres erwarten die angestammten Printleser, Letzteres bietet die nötige Freiheit für Neues – und hat oft großen Erfolg.

März 2012, ein großer Verlag irgendwo in Deutschland. „Hier ist das Allerheiligste, hier sitzen die Blattmacher“, erklärt der stolze Chefredakteur am Ende seiner beeindruckenden Hausführung: Zwei Dutzend Journalisten vor Bildschirmen organisieren die Print- und die Online-Ausgabe. Er öffnet die Tür zu einem weiteren Raum mit zehn Arbeitsplätzen: „Und hier ist unsere iPad-Redaktion.“ Wie viele Ausgaben die aufwendig produzierte Tablet-Version denn direkt verkaufe? „Das ist verschwindend“, erklärt er. Die Produktion sei viel zu kompliziert, das Produkt im Grunde „ein ganz großer Mist, kann man kaum benutzen, da müssen wir noch mal ran“.

Jochen Wegner ist ein führender Experte für digitale Medien und berät Verlage, Start-ups und Unternehmen. Der ehemalige Chefredakteur von „Focus Online“ und Geschäftsführer von Tomorrow Focus Media gründete gemeinsam mit Software-Unternehmer Marco Börries die Tablet-Magazinplattform „Mag10“.

http://wegner.io

Lesetipp:

Im „Jahrbuch für Journalisten 2012“ stellt Norbert Küpper internationale und deutsche Zeitungs-Apps vor, die mit „European Newspaper Awards 2011“ ausgezeichnet wurden. (Verlag Oberauer, 176 Seiten, 19,50 Euro, Bezug per E-Mail: vertrieb@oberauer.com oder www.newsroom.de/shop)

Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 55 bis 55. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.