Als die Bloggerin Tracy Record in Seattle mit aktuellen Informationen zu einem Schneesturm im Winter 2006 Rekordzugriffe auf ihrer Webseite erzielte, ahnte die stellvertretende Nachrichtenchefin eines lokalen TV-Senders erstmals, dass ihre private Webseite mehr als ein Hobby sein könnte. Tracy Record recherchierte und berichtete topaktuell, welche Straßen noch immer unpassierbar waren und wann und wo die Stromnetze wieder funktionieren würden. Anderthalb Jahre später kündigte sie ihren Job und betreibt seitdem mit ihrem Mann und einer Handvoll professioneller freier Mitarbeiter ihr lokales Nachrichtenportal hauptberuflich. Im Januar 2012 kam das West Seattle Blog (WSB) erstmals auf fast 1,2 Millionen Seitenaufrufe. Der Jahresumsatz, ausschließlich mit Werbefinanzierung erzielt, liegt in einem niedrigen sechsstelligen Dollarbereich. Davon finanziert das WSB zwei Vollzeitstellen (Tracy Records Ehemann Patrick Sand kümmert sich um die Anzeigenakquise und ist als Reporter im Einsatz), drei bis vier professionelle Journalisten arbeiten auf Auftragsbasis mit. Nicht schlecht für ein Medium, dessen Zielgruppe von vornherein auf die knapp 70.000 Bürger von West Seattle begrenzt ist (nicht alle im lesefähigen Alter). Wesentliche Erfolgsfaktoren sieht die Lokaljournalistin in der tiefen Verwurzelung im Stadtteil, im Austausch mit der Community und der schnellen Berichterstattung: „Wir berichten rund um die Uhr. Und wir bleiben kontinuierlich dran bei lokalpolitischen Entscheidungen, die beispielsweise Baumaßnahmen, Verkehr oder Schulen betreffen.“
Insgesamt ist Seattle, eine Metropole im äußersten Nordwesten der USA mit 700.000 Einwohnern, von einem beinahe flächendeckenden Netz mit mehr als 70 hyperlokalen Blogs und Nachrichtenportalen überzogen. Viele davon werden von professionellen Journalisten oder zumindest nach journalistischen Standards betrieben, aber nur eine Handvoll arbeitet profitabel und das West Seattle Blog gilt als nationales Vorzeigebeispiel. Unverzichtbar für den informierten und zugleich engagierten Austausch über lokale Belange finden viele Leser ihre Stadtteilportale jedoch ganz unabhängig von deren Größe und Rentabilität. Dies umso mehr, als sich Seattle mit der Einstellung des gedruckten „Post Intelligencer“ 2009 in die Reihe der US-Städte mit Monopolzeitungen einreihte (im ganzen Land erschienen 2011 nur noch 1.200 Lokalzeitungen, 300 weniger als zehn Jahre zuvor).
Vom ungebrochenen Interesse der Nutzer an Nachrichten aus nächster Nähe versucht auch die „Seattle Times“ zu profitieren, obwohl (oder gerade weil) sie im Zuge der langjährigen Anzeigenkrise ihre Redaktion radikal verkleinern musste. 2009 startete die „Seattle Times“, im Rahmen des Förderprojekts J-Lab der Knight-Stiftung zu möglichen Kooperationen etablierter Medien mit unabhängigen Portalen, ein Netzwerk mit anfangs acht Lokalblogs, darunter auch das West Seattle Blog. Inzwischen ist die Förderung ausgelaufen, aber das „Seattle Times News Partner Network“ gedeiht. Es wurde auf 46 Blogs ausgeweitet, einige themenorientiert, die meisten aber mit sublokaler Ausrichtung. Die „Seattle Times“ und die Lokalblogs verlinken sich und informieren einander bei Treffen und in kurzfristigen Telefonaten über Themen, die für die Partner interessant sein könnten.
Auch wenn eine gemeinsame Anzeigenvermarktung an technischen Problemen und mangelndem Interesse der Werbewirtschaft scheiterte, ist das Netzwerk-Projekt für beide Seiten ein Erfolg. Die „Seattle Times“ beschert den viel kleineren hyperlokalen Webseiten Traffic. Und die etablierte Zeitung kann ihre Leser auch über Ereignisse informieren, zu denen sie keine eigenen Reporter hinschicken kann. Eine aktuelle Umfrage des J-Lab ergab, dass mehr als 80 Prozent der „Seattle Times“-Leser die Kooperation mit den lokalen Blogs befürworten. „Die Nutzer wissen es zu schätzen, dass wir uns als Teil eines Nachrichtenkosmos verstehen und sie mit mehr Informationen versorgen wollen, auch wenn diese Informationen nicht von uns stammen“, sagt Bob Payne, der das Netzwerk als Community-Redakteur betreut.
Kooperation als Erfolgsformel
In der kalifornischen Hauptstadt Sacramento gibt es gleich zwei hyperlokale Blognetzwerke mit einem größeren Medium in ihrer Mitte. Die Zeitung „Sacramento Bee“ kooperiert mit 190 unabhängigen Webseiten in der Region. Über einen Balken mit Social-Media-Share-Funktionen und integrierter Werbung, der am unteren Rand eigener Seiten und der Webseiten im Netzwerk angezeigt wird, vergrößert die Zeitung ihre Online-Werbereichweite. Das Netzwerk ist ein loser Verbund, die Blogs und Lokalportale bleiben unabhängig und werden nicht auf dem Server der Zeitung gehostet. Eine ähnliche Partnerschaft unterhält die alternative Webzeitung „Sacramento Press“ mit unabhängigen Lokalblogs und Themenblogs. Hier wurden die Werbeeinnahmen im Netzwerk von Anfang an geteilt, was bei „Sacramento Bee“ erst im Laufe dieses Jahres geplant ist. Mit Social-Media-Beratung für lokale Werbekunden verdient „Sacramento Press“ zusätzliche Einnahmen, sie machen zwei Drittel des Umsatzes aus.
Einen anderen Weg geht die „New York Times“. Sie lässt ihre hyperlokalen Webseiten „The Local“ für Teile des Bezirks Brooklyn von Studenten an der City University of New York (CUNY) produzieren, an der Jeff Jarvis unterrichtet. Journalistikprofessor Jay Rosens Studenten an der New York University (NYU) erstellen wiederum die Lokalportale für das East Village in Manhattan. An beiden Hochschulen betreuen die Studenten die lokalen Seiten zwar unter der Dachmarke der „NYT“, aber nicht als freie Mitarbeiter, sondern in redaktioneller Eigenverantwortung in einer Laborsituation. Sie bringen frischen Wind und viele Ideen für spannenden Lokaljournalismus unter Einbeziehung der Nutzer mit. „Es ist schwer für ein großes Medienunternehmen, genug Zeit für Innovationen zu finden, wenn man täglich Redaktionsschlüsse einhalten, eine Zeitung veröffentlichen und eine Webseite füllen muss“, weiß Rosen.
Fruchtlose Debatten, ob Lokalblogger Journalisten ersetzen können, werden in den USA sechs bis sieben Jahre nach dem Aufkommen der hyperlokalen Blogs mittlerweile nicht mehr geführt. Pragmatismus ist eingekehrt: Es gibt Konferenzen und Metablogs zum Thema „hyperlocal“ und seit 2011 auch einen Verband verlagsunabhängiger Lokalblogger („Authentically Local“). Kurzum: Die hyperlokale Szene vernetzt, professionalisiert und verstetigt sich. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Medientrend „hyperlocal“ weder ein kurzfristiger Hype noch die Rettung des Lokaljournalismus ist. Nach vielen gescheiterten und einigen funktionierenden Projekten weiß im Grunde noch immer niemand, ob sich hyperlokale Blogs vorwiegend über Selbstausbeutung, als Non-Profit-Projekte, über Werbung oder aber über ganz andere, noch zu entwickelnde Geschäftsmodelle finanzieren werden. Unklar ist auch noch, ob lokale Blogs leidenschaftlicher Einzelkämpfer mit einer Verwurzelung vor Ort, Kooperationsmodelle oder eigene Netzwerke großer Medienkonzerne wie AOLs hyperlokale Blogkette Patch letztlich erfolgreicher sein werden.
Ansätze zur Professionalisierung zeigen sich auch in Deutschland: Heddesheimblogger Hardy Prothmann und Peter Posztos („Tegernseer Stimme“) lizenzieren gemeinsam genutzte Blogsoftware an interessierte Lokalblogger. Bisher macht ein halbes Dutzend Partner mit, wenn es 30 bis 50 sind, sollen überregionale Werbepartner angesprochen werden. In Berlin haben sich Prenzlauerberg-Nachrichten.de und das Print- und Onlinemagazin „Mitteschön“ etabliert, in Hamburg betreibt Christoph Zeuch mit Altona.info eine profitable digitale Zeitung für die 250.000 Einwohner von Altona, die laut Zeuch täglich bis 3.500 Menschen lesen. Er glaubt, dass auch unsere hyperlok
ale Medienszene professioneller wird, auch da „immer mehr erfahrene Journalistinnen und Journalisten aus fest angestellten Verhältnissen ausscheiden oder aus unternehmerischer Überzeugung die Gestaltung von eigenen Medien vorantreiben“.
Ulrike Langer ist freie Fachjournalistin für digitale Medienthemen und Redaktionsmitglied von „medium magazin“.
mail@medialdigital.de
Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 44 bis 44 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.