„Mundtot machen, brechen und zermürben“

Seit einem Jahr sind bekannte Journalisten wie er in Haft. Sie werden verdächtigt, mit dem geheimen Putschplan-Geflecht Ergenekon unter einer Decke zu stecken. 134 Seiten umfasst die Anklageschrift. Die ebenfalls angeklagte Müyesser Uğur sagte im Gerichtssaal: „30 Jahre lang arbeitete ich als Journalistin, doch die Anklage behauptet, ich sei eine Terroristin.“

Seine journalistische Ehre verteidigte auch Baris Pehlivan, der wegen ähnlicher Vorwürfe seit einem Jahr in Haft sitzt. „Den Journalismus auszuüben bedeutet in diesem Land, ins Gefängnis zu gehen“, sagte er beim Verhör. Er sei gegen jeden Militärputsch. „Ich schäme mich, in diesem Fall ein Verdächtiger zu sein. Doch als Journalist fühle ich mich geehrt, denn ich bin mir bewusst, warum ich hier stehe.“

Viele Journalisten in der Türkei kritisierten auch das umstrittene Urteil im Mordfall ihres armenisch-türkischen Kollegen Hrant Dink (siehe Kasten). Neben Hrant Dink wurde im Januar in Istanbul auch des Journalisten Metin Göktepe gedacht, der 1996 in Polizeigewahrsam starb. „Jedes Jahr versprechen wir ihm freiere Medien. Jetzt erleben wir, dass die Presse mehr und mehr unterdrückt wird“, klagte sein ehemaliger Chefredakteur am Grab.

Die Freiheit des Wortes in Gefahr

Premier Recep Tayyip Erdoğan sieht das freilich aus einer anderen Perspektive und weist den Vorwurf, Druck auszuüben, zurück: Nicht wegen kritischer Berichte, sondern wegen mutmaßlicher Straftaten wie Beihilfe zum Putsch kämen die Schreiber hinter Gitter.

An die 100 türkische Journalisten waren zur Jahreswende im Gefängnis, 200 droht Verhaftung. Für Reporter ohne Grenzen (ROG) ist das Kriminalisierung aufgrund der Ausübung des Berufs. „Kautschuk-Paragrafen“ und Anti-Terror-Gesetze werden gegen investigative Journalisten angewendet, so Österreichs ROG-Chefin Rubina Möhring. Oliver Vujović vom International Press Institute (IPI) warnt: „Die Freiheit des Wortes ist gefährdet.“

Eine „unmenschliche Verhaftungsmaschinerie“ wurde in Gang gesetzt, kommentierte eine regierungskritische Zeitung und zitierte einen Richter mit den Worten, das türkische Rechtssystem sei „skandalös“. Es ziele auf die Freiheit des Menschen. Das Konzept Freilassung gegen Kaution existiert nicht.

Politische U-Häftlinge füllen die Gefängnisse, seit wegen einer angeblich ultranationalistischen Verschwörung zum Sturz der AKP-Regierung (Ergenekon) ermittelt wird. Laut türkischem Menschenrechtsverband sind 42 Prozent der insgesamt 128.000 Insassen türkischer Haftanstalten keine verurteilten Täter, sondern festgenommene Verdächtige. Die islamisch-konservative AKP-Regierung weist den Vorwurf zurück, unliebsame Bürger, sowohl Intellektuelle wie Militärs, gerieten unter die Räder des Systems. Justizminister Sadullah Ergin sprach gar von längeren U-Haftzeiten in nordischen Ländern. Nur 28,4 Prozent der Häftlinge säßen ohne Urteil ein. Erdoğan stellte dennoch eine Justizreform mit Umwandlung von Haft- in Bewährungsstrafen in Aussicht. In Europa verstehe man die Sachlage nicht, denn dort verfechten Journalisten keine Staatsstreiche. Die Kulisse für derlei Sprüche hatte der AKP-Chef gut gewählt: das 25-Jahr-Jubiläum der befreundeten Zeitung „Zaman“.

Hut ab vor jenen, die da noch kritische Wortmeldungen wagen. Die türkische Justiz funktioniere nach dem Umkehrprinzip, so ein Experte. Der beschuldigte Journalist müsse seine Unschuld beweisen, während das Gericht oft Beweise schuldig bleibe. Beispiel: Nicht-Zulassung von Telefonmitschnitten im Dink-Prozess. Jüngst wurde gar ein Pro-AKP-Kolumnist wegen eines kritischen Prozessberichts von seinem Blatt gefeuert.

Angst regiert. Denn Festnahme bedeutet: Vier, fünf Jahre Prozess, der Job ist weg, die Familie unversorgt. Dann erst ist ein Gang zum Europäischen Menschenrechtsgerichtshof möglich. Eine Entschädigung gibt es nicht; wenn, kommt sie zu spät. Derart „zwischen zwei Feuern“ verzichtet man etwa bei Pressekonferenzen auf kritische Fragen, erzählt ein Journalist. Dazu kommt die Angst, den eigenen Arbeitgeber zu gefährden.

„Wenn zehn bis 20 Inspektoren auftauchen, finden sie immer etwas“, schildert der türkische Kollege. Ein „Vergleich“ sei oft der einzige Ausweg. Man erinnert sich: Der Doğan-Konzern, früher der größte Medienkonzern der Türkei, musste zwei unerwünschte Kolumnisten fristlos entlassen. Es galt, sich von einer exorbitanten Finanzstrafe freizukaufen.

Seit etwa vier Jahren habe sich die Lage verschlechtert, resümiert der Kollege. Die AKP festigte bei der Wahl 2011 ihre Macht. Der Justizapparat wurde ausgetauscht, vom Verfassungsgericht bis zur Staatsanwaltschaft. „Es gibt keine unabhängige Justiz mehr.“

Im ROG-Ranking rutschte die Türkei seit 2010 um zehn Plätze auf Rang 148 ab. Die Chefin der ROG-Österreich-Sektion wertet es als „sehr gefährlich für eine Gesellschaft“, wenn eine Regierung kein Interesse an Aufdeckung hat und „investigative Journalisten, die Klarheit schaffen wollen, beiseitegeschafft werden“. Sie würden wegen Recherchen in ultranationalistischen Kreisen eingesperrt. Erschwerend komme die Kurden-Frage dazu. Möhring: „Ein Land, in dem fundierte Kritik nicht möglich ist, entfernt sich von demokratischen Grundsätzen.“

Zerstörte Existenzen

ROG bemüht sich, den Betroffenen zu helfen: Fälle aufzeigen, öffentlich Druck ausüben, Anwälte zahlen, Familien durch Spendenaktionen unterstützen. Auch Verfahren vor dem EuGH dauern Jahre. „Inzwischen sind Existenzen zerstört.“ Die langen U-Haftzeiten bedeuteten „Mundtot-Machen, Brechen und Zermürben“.

Möhring ortet eine gezielte Einschüchterungspolitik der Regierung. Der Fall Dink sei ein Beispiel für „Zensur durch Mord“, der Angst einflöße. Der jüngste Prozess erwecke den Eindruck von Vertuschung. Aufgabe einer Regierung sei es, „Aufklärung voranzutreiben und nicht zu behindern“. Dass der Dink-Prozess so rasch durchgezogen wurde und ein Strohmann ins Gefängnis ging, könnte als Ermunterung für weitere Journalistenmorde aufgefasst werden.

Auch Oliver Vujović vom International Press Institute ist beunruhigt über die Entwicklung. „Die Angst der noch freien Journalisten in der Türkei ist viel größer als vor einigen Jahren“, meint Vujović zur „Selbstzensur aus Angst vor Verhaftung“. Verhaftungen unter dem Einfluss der Politik seien gefährlich. „Im Rechtsstaat darf nicht die Politik bestimmen.“ Zu den Putschvorwürfen sagt er: „In einem Rechtsstaat muss man Dinge beweisen. Kritischer Journalismus ist ein wichtiges Kontrollinstrument für einen Staat.“ Europarat und OSZE sollten stärker auf die Verletzung von Rechten reagieren. Radikale Änderungen im Justizsystem fordert der Menschenrechtskommissar des Europarates, Thomas Hammarberg. „Die Energie, die in Verhaftungen investiert wurde, war im Ergenekon-Fall ungleich größer als im Fall Dink“, stellte er fest. Obwohl alles auf ein größeres Komplott hinwies. Die Türkei müsse sich in der Causa Dink auf eine Verurteilung durch das Straßburger Gericht einstellen.

Ein Zeichen setzte der bekannte US-Autor Paul Auster. Sein jüngstes Buch „Winter Journal“ erschien gerade auf Türkisch, sein Verlag lud ihn in die Türkei ein. Austers Absage erfolgte prompt: „Ich reise nicht in ein Land, in dem es keine Pressefreiheit gibt.“

Hermine Schreiberhuber ist freie Journalistin in Wien.

hermine.schreiberhuber@gmx.at

Erschienen in Ausgabe 03/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 42 bis 42 Autor/en: Hermine Schreiberhuber. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wend
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