Texte mit Sprengkraft

Es war ein Aufruf zum Mord. Man solle den jungen Mann lynchen, ihn aus der Polizeistation herausholen, so hieß es in einem bei Facebook geposteten Aufruf und in diversen Foren. Blitzschnell formierte sich ein Cybermob und beschimpfte den angeblichen Mörder der elfjährigen Lena aus Emden. „Ausrotten dieses Dreckspack“, schrieb jemand. Ein anderer: „An die Wand stellen, erschießen.“ Höchst ungewöhnlich: Einzelne wagten sich ohne erkennbare Scheu aus dem Dunkel der Anonymität, legten die schützende Maske der Nicknames und Pseudonyme ab – und traten ins reale Leben. Vor der Polizeistation der ostfriesischen Stadt kamen rund 50 Menschen zusammen, um den des Mordes verdächtigen Berufsschüler zu attackieren und seine Auslieferung an die Gruppe der selbst ernannten Rächer zu fordern. Allerdings: Der junge Mann war unschuldig – Opfer eines Ermittlungsfehlers und der öffentlichen Vorverurteilung. Die Polizei hatte sich geirrt, und mit ihr der Mob, der auf Vergeltung drängte.

Trotz der gewiss ungewöhnlichen Grausamkeit der Fallgeschichte zeigen sich hier typische Muster einer radikal demokratisierten Entlarvungs- und Enthüllungspraxis: Tatsächliche und vermeintliche Straftaten, echte und bloß behauptete Normverletzungen aller Art, Gerüchte und Verdächtigungen lassen sich im digitalen Zeitalter barrierefrei öffentlich machen. Die einst so mächtigen Gatekeeper in Gestalt journalistischer Profis besitzen lange schon kein exklusives Publikations- und Deutungsmonopol mehr.

Heute kann jeder, der mag, als Publizist in Erscheinung treten, sich seinen eigenen Kanal kreieren, Blogs und Websites nutzen, senden, verlinken, speichern, veröffentlichen. Die klassischen Medien agieren nicht mehr als die alles entscheidenden Akteure, die klare Relevanzordnungen autoritär durchsetzen können. Und das Publikum ist nicht mehr zur Passivität oder zur bloßen Reaktion verdammt, sondern selbst zu einem wirkmächtigen Player in der Erregungsarena der Gegenwart geworden.

Aber wie lassen sich die Enthüller neuen Typs fassen, wenn sich doch prinzipiell jeder zu ihnen zählen kann? Sie unterscheiden sich, so zeigen aktuelle Fallstudien, danach, ob es sich um große oder kleine, stabile oder instabile Gruppen handelt, ob die Akteure als Einzelne oder im Schwarm auftreten – und ob die Entlarvung tatsächlich strategisch vorbereitet wird oder eher ungeplant erfolgt. Ganz konkret:

Zum einen entdeckt man äußerst flüchtige Enthüllungs- und Wutgemeinschaften ohne eine eigene, für diesen Zweck und für das jeweilige Thema kreierte Plattform. Sie bilden sich durch einen aus dem Moment heraus geborenen Empörungsanlass – wie im Mordfall von Emden. Schon kurz nachdem der damals 17-jährige Verdächtige in Handschellen abgeführt worden war, tauchten sein Vor- und Nachname, die Adresse und Fotos seines Wohnhauses im Netz auf – Informationsfragmente, die dem wütenden Mob einen greifbaren Feind gaben. Kaum erwies sich der Verdacht als falsch, zerfiel die Ad-hoc-Gruppe der Rächer wieder und verschwand in den Weiten des Netzes.

Zum anderen gibt es recherchierende Publizisten, die auf einen aktuellen Anlass reagieren, aber doch vergleichsweise organisiert und strukturiert vorgehen. Etwa die Aktivisten, die mit Hilfe der klassischen Massenmedien den Plagiator Karl-Theodor zu Guttenberg zu Fall brachten. An dem eigens eingerichteten Wiki GuttenPlag arbeiteten nonstop zahlreiche freiwillige Helfer mit, koordiniert und dirigiert von einem Doktoranden, der unter dem Pseudonym PlagDoc auftrat. Innerhalb kürzester Zeit identifizierte ein strikt auf Entlarvungskurs getrimmter Schwarm eine Vielzahl von Abschreibereien in der Doktorarbeit des damaligen Verteidigungsministers und machte sie mit Hilfe umsichtig aufbereiteter Grafiken und Statistiken nachvollziehbar. Dabei waren die Beteiligten, auch das muss einmal erwähnt werden, deutlich schneller als die Mitarbeiter der „Spiegel“-Dokumentation, sie konnten ohne Redaktionsschluss und Drucktermin ununterbrochen eine Follow-up-Berichterstattung leisten, die die wiederholten Dementi zu Guttenbergs („kein Plagiat“, „abstrus“) in Rekordgeschwindigkeit demontierte.

Überdies sind es natürlich auch Einzelne, die Skandale und Skandälchen publizieren und die mit voller Absicht auf den Scoop zielen. Sie nutzen eigene oder fremde publizistische Plattformen für ihre Durchstechereien. Der bekannteste und vermutlich am umfassendsten dokumentierte Fall ist die Geschichte des mutmaßlichen Wikileaks-Informanten, des US-amerikanischen Soldaten Bradley Manning. Er kopierte am Stützpunkt Hammer östlich von Bagdad Tausende geheimer Dokumente auf CD, ließ sie Julian Assange und seiner Enthüller-Crew zukommen – darunter auch das Video „Collateral Murder“, das weltweit für Aufsehen sorgte. Es zeigt US-Soldaten, wie sie in Bagdad von einem Hubschrauber aus Unschuldige erschießen.

Auch Para-Journalisten wie Matt Drudge (Enthüller der Clinton-Lewinsky-Affäre) oder der kürzlich verstorbene Andrew Breitbart (ein rechtspopulistischer Blogger und Medienunternehmer) sind es, die hier erwähnt werden müssen. Ihr Ziel ist vielfach nicht die faktentreue Information, sondern die möglichst spektakuläre Intervention in politischer Absicht. Ihre eigenen Kanäle und Medien dienen dazu, das Verhalten der jeweiligen Gegner möglichst effektiv zu skandalisieren. Man könnte sagen: Die Para-Journalisten der neuen Zeit experimentieren mit wahren und falschen Anschuldigungen im Medium der Öffentlichkeit; sie testen den Realitätsgehalt von Behauptungen eben nicht durch die Recherche, sondern durch den Akt der Publikation.

Und natürlich gibt es auch eine große Zahl von Akteuren, die ihre mehr oder minder bedeutsamen Verfehlungen gleich selbst an die Öffentlichkeit bringen – und sich aufgrund fehlender Medienkompetenz vor einem nicht mehr eingrenzbaren Publikum blamieren. Paradebeispiel für diesen Typus der peinlichen Selbstenthüllung ist das Missgeschick des amerikanischen Politikers Anthony Weiner, der im vergangenen Jahr seine Cybersexaffären mit einem einzigen Klick bekannt machte – und für ein Handyfoto versehentlich den falschen Verteiler wählte. Mit einem Mal war das Bild einer grauen Unterhose, in der sich der erigierte Penis des Politikers abzeichnete, für Tausende von Followern in seiner Twitter-Timeline zu sehen. Zuerst leugnete er sein Missgeschick, beschuldigte Hacker, ließ pro forma gegen die angeblichen Cyber-Saboteure ermitteln. Doch schon kurz darauf fand man weitere Bilder im Netz; überdies gingen von ihm bedrängte Frauen an die Öffentlichkeit. Anthony Weiners Karriere war beendet.

Schon diese knappe Zusammenschau macht eines deutlich: Grausame Spektakel und brisante Skandale tauchen im globalen Echoraum der digitalen Sphäre gleichermaßen auf. Mal regiert der Mob, mal die feixende Spottgemeinde, dann wieder sind es Schwärme kluger Aktivisten oder engagierte Moralisten, die ein Kriegsverbrechen aufdecken. Die radikale Demokratisierung der Enthüllungs- und Entlarvungspraxis führt dazu, dass jeder, der speichert, kopiert und publiziert, sich immer auch mit Fragen konfrontiert sieht, die einst journalistischen Profis vorbehalten waren: Wie ist eine Quelle einzuschätzen? Was ist wichtig, was nicht? Welche Bedeutung hat eine Geschichte?

Das heißt dann aber auch: Journalistisches Bewusstsein und eine Mentalität des empathischen Abwägens müssen zu allgemeinen Maximen des digitalen Zeitalters werden. Und das Bemühen um die präzise Information und eine möglichst verantwortungsvolle Aufklärung ist – so betrachtet – nicht mehr nur der Leitwert einer speziellen Profession, sondern auch das Ideal einer globalen Gemeinschaft von Publizisten. Das mag utopisch klingen, gewiss. Aber was bleibt anderes übrig? Schließlich kann und muss heute jeder darüber entscheiden, ob der echte oder der falsche, bloß behauptete Skandal das öffentliche Leben dominiert.

Zu den Autoren

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Hanne Detel arbeitet dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin.

LINK: http://entfesselter-skandal.halem-verlag.de

Erschienen in Ausgabe 04+05/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 44 bis 45 Autor/en: Bernhard Pörksen, Hanne Detel. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.