Das Dilemma der Kulturwellen

Lange Zeit waren die Kulturprogramme Bollwerke des guten, alten „Kästchen“-Radios geblieben: Das heißt, sie reihten beharrlich in sich abgeschlossene Wort- und Musiksendungen mit heterogenen Inhalten für wechselnde Minderheiten aneinander. Die massen-attraktiven Programme hatten sich da schon längst darauf eingestellt, dass Radio tagsüber hauptsächlich nebenbei gehört wird. „Durchformatierte“ und „durchhörbare“ Wellen waren das Ergebnis.

Doch „die Verantwortlichen der Kulturprogramme stecken in einem Dilemma“, sagt Ulrich Neuwöhner von der SWR-Medienforschung: Die Wünsche der jüngeren Zielgruppe und die der traditionellen Kulturradio-Hörer seien schwer kompatibel. „Die Kulturradio-Macher müssen sich also vor allem entscheiden, wen sie ansprechen wollen.“ Eine Arbeitsgruppe der ARD-Hörfunkdirektoren soll sich demnächst mit den Kultur- und Informationsprogrammen befassen, der WDR setzt eine Zukunftswerkstatt ein, Mitte Juni werden in der Evangelischen Akademie Tutzing „Perspektiven und Potentiale“ der Kulturradios diskutiert (http://bit.ly/LKRgmU). Offenbar gibt es Redebedarf.

Die Bildungsbürger schwanden

Kulturradios folgten mit ihrer Programmpolitik anfangs zuweilen weniger einem eigenen Konzept als einer Programmstrategie der Sender: Die wollten einerseits die Mehrheitenprogramme von „sperrigen Inhalten“ befreien und andererseits insgesamt ihrem umfassenden öffentlich-rechtlichen Auftrag weiterhin gerecht werden. So entwickelten sich die Kulturprogramme zu Inseln der Glückseligen, deren spezielle Wort- und Musikinteressen dort befriedigt wurden. Und zunehmend sie allein boten Arbeitsplätze und Verdienstmöglichkeiten für Journalisten, die in solchen „gehobenen Inhalten“ ihre berufliche Befriedigung fanden.

Mit der Zeit freilich nahm die Zahl der Hörer ab, die mit Hochkultur im Radio und langen Sendungsformaten aufgewachsen war. Und langsam begannen die Kulturprogramme, dem Rechnung zu tragen. Der Abend und das Wochenende blieben weitgehend Kästchen-Radio-Zeit, mit zum Beispiel langen Konzertübertragungen, Hörspielen und Hörkunst, Features und Feuilletons. Zu Tageszeiten, an denen auch Kulturinteressierte meist arbeiten müssen und nur nebenbei hören können, passten sich die Kulturprogramme aber nach und nach dieser Hörsituation an. Sie wurden kleinteiliger, weniger „schwergewichtig“ bei der Themenwahl und zugewandter in der Höreransprache. Zumindest in den Haupt-Hörzeiten werden im Prinzip nun meist kulturelle Begleitprogramme gesendet, die „durchhörbar(er)“ geworden sind – auch wenn ihre Macher das Wort häufig naserümpfend dem massentauglichen Formatradio zuordnen. Zwischen solchen magazinierten Strecken haben sich – von Programm zu Programm sehr unterschiedlich – auch Musikspecial- und längere Wortsendungen behauptet, etwa Lesungen, ein sehr beliebtes Format.

Zu dieser noch andauernden Entwicklung gehören auch Veränderungen bei der Musik. Die klassische Musik wurde vielfach populärer („Klassik-Hits“) und kleinteiliger („Einzelne Sätze statt des ganzen Werks“). Zudem bekam sie Konkurrenz: Bayern 2 verzichtet ganz auf Klassik und spielt anspruchsvolle Popmusik jenseits der Charts. Programmchef Wolfgang Aigner hat damit kein Problem, schließlich bietet der BR mit Bayern 4 eine eigene Klassik-Welle. MDR Kultur und SR 2 Kultur-Radio senden Crossover-Musik, neben Klassik vor allem auch Jazz, „klassische“ Poptitel und Weltmusik.

Diese drei Programme sind die erfolgreichsten in der letzten Media-Analyse (2012/I). Auch das bundesweite Deutschlandradio Kultur folgt diesem Konzept. Andere Kulturradios bringen Crossover-Musik entweder nur in bestimmten Sendungen oder beschränken sich nach wie vor auf klassische Musik. Mit Klassik pur fühlen sich die älteren hochkulturell interessierten sogenannten Bildungsbürger am besten bedient. Sie gefällt ihnen zu 93 Prozent „sehr gut“. Diese von den Medienforschern „kulturorientierte Traditionelle“ genannte Kernzielgruppe der Kulturradios ist im Durchschnitt 65 Jahre alt, zwei Drittel davon sind Frauen.

Crossover versus Klassik

Die andere Hauptzielgruppe heißt in der Mediennutzer-Typologie „moderne Kulturorientierte“ (Altersdurchschnitt 53 Jahre, 57 Prozent Frauen-Anteil). Ihnen gefällt klassische Musik sogar zu 95 Prozent „sehr gut“. Daneben sind sie aber auch überdurchschnittlich an Jazz, Liedermachern, Chanson, Rock oder Weltmusik interessiert und akzeptieren auch Popmusik. Sie haben ein weites Kulturverständnis und machen inzwischen die Mehrzahl der Kulturradio-Hörer aus. Programme, die diesen Musik-Mix spielen, haben deshalb im Schnitt auch die jüngeren Hörer. Auch Ekkehardt Oehmichen, Leiter der HR-Medienforschung, findet, dass diese Neuinterpretation gelungen ist: Den „Weg der Öffnung des Kulturbegriffs, auch im Blick auf jüngere Hörerschaften, müssen diese Programme weitergehen.“

Dennoch richten sich Kulturradios nicht schlicht nach solchen Ergebnissen der Hörer-Forschung. Bei konzeptionellen Überlegungen müssen sie auch bedenken, welchen Teil des öffentlich-rechtlichen Kulturauftrags bereits andere Wellen ihrer Sender leisten. Gibt es eine eigene Klassik-Welle? Bietet eine Wort-Welle auch viel aktuelle Kultur-Berichterstattung, wie etwa WDR 5 oder mehrere Info-Radios? Haben Begleitprogramme bereits spezielle Kulturangebote für ihre Zielgruppe, wie Radio Eins vom RBB oder Eins Live vom WDR? Auch konkurrierende Kultur-Angebote anderer Sender sind zu berücksichtigen: Soll ich auch noch Crossover-Musik spielen, wenn das in meinem Sendegebiet bereits DLR-Kultur mit gutem Erfolg tut?

Schließlich spielt, zumindest bei der Vermittlung und dem Tempo von Reformen, auch eine große Rolle, woran die Hörer über Jahrzehnte gewöhnt sind. Eine als traditionell definierte Zielgruppe wird den Versuch, ein Kulturradio „zukunftsfähig“ zu machen, schnell als Angriff auf ihren kulturellen Besitzstand verstehen. Wenn aus solchen Verlustängsten, verbunden mit verständlichen wirtschaftlichen Interessen mancher Kulturanbieter, so etwas wie ein Kulturkampf ums Radio entsteht, dann scheint fast die Kultur insgesamt bedroht – und zumindest die im Radio rettungsbedürftig.

Wilhem Matejka, Programmchef vom Kulturradio RBB, sieht die Diskussion entspannter: „Die Gesellschaft altert, unsere Kulturradios nicht.“ Er rät: „Hört auf mit dem Märchen, dass die Kulturradios in der Krise stecken“ (s. Kasten).

Auch der frühere ARD-Vorsitzende und SR-Intendant Fritz Raff riet bereits 2008 im „ARD-Kulturbuch“, zuversichtlich zu sein bezüglich der Herausforderung, „kulturelle Güter und Werte einem möglichst großen Publikum mit höchst unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen und Interessenlagen zu vermitteln“. Diese Zuversicht fand er bei einem, der schon vor mehr als 200 Jahren überzeugt war, „groß, doch nicht unüberwindlich“ sei die Schwierigkeit, „dem heiklen Geschmack der Kenner und der Würde der Kunst gleichermaßen Genüge zu leisten“, ohne dadurch einer breiteren Öffentlichkeit „ungenießbar“ zu sein. Der Autor: Friedrich Schiller.

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Weitere Statements von vier Kulturradio-Machern und Medienforschern finden Sie unter:

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Axel Buchholz lehrt Journalismus in Mainz und war zuvor u. a. Hörfunk-Chefredakteur beim SR.

axel.buchholz@uni-mainz.de

Erschienen in Ausgabe 06/202012 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 24 bis 24 Autor/en: Axel Buchholz. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.